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Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Titel: Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Polansky
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hätten, ein Stück von ihrer Leiche sicherzustellen, statt sie in der Erde verfaulen zu lassen.«
    Wir hängen das nicht an die große Glocke, aber am meisten kann ein Seher nicht etwa mit Haaren, sondern mit Fleisch anfangen – es muss gar nicht viel sein, ein Fitzelchen genügt. Die guten Seher bestehen darauf, und als ich damals zu den Schneemännern gehörte, sah ich zu, ihnen nach Möglichkeit welches zu liefern. Einen kleinen Finger, manchmal ein Ohr, sofern der Verschiedene nicht in einem offenen Sarg aufgebahrt werden sollte. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich, wenn ich den peinlich genau katalogisierten Inhalt der Regale in diesem Raum näher untersuchte, auf unzählige Gefäße mit eingelegtem Fleisch, mit Sehnen- und Muskelteilen, die in Salzlake schwammen, stoßen würde.
    Dieser beleidigende Vorwurf bewirkte, dass Guiscard den Mut zu einer Erwiderung fand. »Was sollte ich denn machen, Marieke? Sollte ich mich vor dem Begräbnis mit einer Gartenschere zur Leiche schleichen?«
    Die Augen der Eisschnepfe verengten sich zu dunklen Schlitzen. Sie riss das Laken von der Leiche und ließ es zu Boden fallen. Der starre Körper des Mädchens kam zum Vorschein. Mund und Augen waren geschlossen, die Haut, von der sich der dunkle Flaum ihres Schamhaars abhob, schimmerte weiß wie Salz. »Sicher weiß sie es zu schätzen, dass Sie die Schicklichkeit nicht verletzt haben«, sagte Marieke mit kalter Wut. »Und zweifellos wird die Nächste es auch zu schätzen wissen.«
    Guiscard wandte den Blick ab. Es war schwer, etwas anderes zu tun.
    »Sie sagten, Sie hätten uns nicht viel zu erzählen«, wandte ich mich an Marieke, sobald ich der Ansicht war, dass genug Zeit vergangen sei. »Was haben Sie denn ausgelassen?«
    Das war eine durch und durch harmlose Frage. Sie brauchte jedoch ein Weilchen, um darüber nachzudenken, sie von allen Seiten zu untersuchen und sich zu vergewissern, dass die Frage nichts Beleidigendes enthielt, keine Kränkung, die sie mir heimzahlen musste. »Wie ich schon sagte, konnte ich dem Körper nichts entnehmen, und die Erkundungen, die ich durchgeführt habe, haben nichts erbracht. Aber es gibt etwas Merkwürdiges, etwas, das ich noch nie erlebt habe.«
    Sie verstummte. Ich hielt es für das Beste, ihr Zeit zu lassen. Wenn ich sie jetzt antrieb, riskierte ich es, mir ihren Zorn zuzuziehen.
    »Es gibt …« Sie machte eine Pause und versuchte, ihre Gedanken in einer Sprache auszudrücken, der die Begriffe fehlten, um die ganze Palette ihrer Wahrnehmungen wiederzugeben. »… eine Aura, eine Art Leuchten, das den Körper umhüllt. Wir können diese Aura wahrnehmen, ihr manchmal nachgehen, sie vom Ort des Todes zurückverfolgen, sie an Dingen aus der Umgebung des Verstorbenen erkennen, an Dingen, die ihm wichtig waren.«
    »Sie meinen die Seele?«, fragte Guiscard in skeptischem Ton.
    »Ich bin keine Scheißpriesterin«, fuhr sie ihn an, was man bei ihrer Ausdrucksweise wohl auch kaum erwartet hätte. »Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich weiß, dass diese Aura jetzt fehlt, obwohl sie eigentlich da sein sollte. Wer auch immer für diese Tat verantwortlich ist, hat ihr mehr als ihr Leben genommen.«
    »Wollen Sie damit sagen, sie wurde geopfert?«
    »Das weiß ich nicht genau. So etwas ist sehr selten, ich habe es wie gesagt noch nie zuvor erlebt. Theoretisch würde ein Ritualmord, besonders der an einem Kind, einen ungeheuren Schwall von Energie freisetzen – Energie, die man dazu benutzen könnte, einen Zauber von immenser Kraft in die Wege zu leiten.«
    »Was für einen Zauber?«
    »Keine Ahnung. Fragen Sie einen Magier. Der kann Ihnen vielleicht mehr dazu sagen als ich.«
    Genau das würde ich tun, sobald ich die Gelegenheit dazu hatte. Guiscard sah mich an, um sich zu vergewissern, dass es keine weiteren Fragen gab. Ich schüttelte den Kopf.
    »Wie immer sind wir Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar«, sagte Guiscard zu Marieke. Er war klug genug, um zu wissen, dass man sich jemanden, der so kompetent war wie die Eisschnepfe, warmhalten musste, auch wenn ihre Eigenheiten etwas befremdlich sein mochten.
    Marieke tat seine Dankbarkeit mit einer Handbewegung ab. »Ich werde noch ein paar Rituale durchführen. Vielleicht kann ich doch noch etwas rausfinden, bevor sie morgen begraben wird. Aber erwarten Sie nicht zu viel. Derjenige, der sie abgemurkst hat, war gut und gründlich.«
    Ich nickte ihr zum Abschied zu, was sie allerdings ignorierte. Guiscard und ich wandten uns zur Tür.

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