Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
darauf hin, dass er diesen Vorgang überhaupt bemerkte. »Viel ist meinem engsten Freund widerfahren, seit wir das letzte Mal miteinander sprachen.«
Ich wartete ab, worauf er hinauswollte.
»Vor ein paar Wochen hat mein Bruder um Erlaubnis gebeten, mein Revier betreten zu dürfen. Ich war dankbar, einem so lieben Geschäftspartner einen Dienst erweisen zu können. Mein Bruder kam, mein Bruder stellte Fragen. Ein Mann, ein Kirener, starb. Später durchsuchten Ermittlungsbeamte seine Wohnung – sie sagten, der Tote sei ein Kindermörder gewesen, sie sagten außerdem, er habe ein kleines weißes Mädchen getötet. Jetzt spricht mein Volk von dämonischen Wesen, die im Dunkeln lauern und Jagd auf die Kinder der Ehrwürdigen Lande machen. Und es spricht von den Gendarmen seiner neuen Heimat, die diese Dinge bereitwillig geschehen lassen.« Unablässig schlugen seine goldenen Fingernägel aneinander, klick, klick, klick .
»Ruhm und Ehre dem Himmlischen Kaiser, dessen Wege subtil, aber unbeirrbar sind und der alles Böse mit gleicher Münze zurückzahlt. Gesegnet sind wir, die wir den Kaiserlichen Pfad nicht verlassen und deren Schritte vom Höchsten seiner Minister verfolgt werden. Mögen unsere Worte ohne Falsch geäußert werden und unsere Taten zum Ruhm der Ewigen Majestät beitragen.« Das topp erst mal, du steingesichtiger Dreckskerl.
Ling Chi stieß ein Lachen aus, ein knistriges Geräusch, das sich wie das Brüllen einer Heuschrecke anhörte, und winkte einen Jungen heran, der mit einer neunzig Zentimeter langen Pfeife in Form eines gestreckten Drachen herbeigeeilt kam und sie seinem Herrn an den Mund hielt. Ling Chi nahm einen Zug und blies ein übles Gemisch aus Tabakrauch und Opiaten in die Luft. Er bot mir die Pfeife an, indem er mit einem seiner langen Fingernägel darauf zeigte, doch ich schüttelte den Kopf, worauf er den Jungen mit einer Handbewegung wegscheuchte.
»Die Frömmigkeit meines Geschäftspartners ist eine Quelle ständiger Inspiration. Und dennoch …« Seine von schwarzer Schminke umrandeten Augen nahmen einen betrübten Ausdruck an. »Zahlreich sind die Dämonen der Verderbtheit, die am Weg zur Erleuchtung lauern, und gewunden ist der Pfad. Nichts gefällt den Herren des Lasters mehr, als das Tun eines rechtschaffenen Mannes zu verdrehen und es ihren eigenen finsteren Zwecken anzubequemen.«
»Die Worte meines Landsmanns sind Wohlklang für meine Ohren und veredeln meinen Geist«, erwiderte ich.
Er klapperte weiterhin rhythmisch mit den Krallen. »Wir sind nur eine arme, rückständige Gemeinde, die auf fremdem Boden ums Überleben kämpft. Diese üble Angelegenheit, diese schrecklichen Taten eines schwachen, perversen Geistes … Derlei droht das empfindliche Gleichgewicht zwischen unserem kleinen Schwarm und den Haien, die uns allenthalben umgeben, zu stören.«
Ich schwieg. Kurz darauf setzte er seine Ausführungen fort.
»Ich bin nur ein betagter Großvater, auf dessen Führung und Schutz seine Landsleute bauen, die sich in euerm Land verloren fühlen. Die geringe Wertschätzung, die ich genieße, würde sich wie der Tau an einem Sommermorgen verflüchtigen, wäre ich nicht imstande, sie gegen die ungerechtfertigten Angriffe ihrer Peiniger zu verteidigen.«
»Dank erfüllt uns, dass der Mörder entdeckt wurde und die Gefahr für die Kinder des Kaisers vorüber ist.«
Seine Nägel hörten auf zu klappern. »Sie ist nicht vorüber«, zischte er, und ich befürchtete schon, unser Gespräch würde in Gewalt umschlagen. Doch er verlor nur vorübergehend die Beherrschung und riss sich so schnell wieder zusammen, als wäre nichts geschehen. Das rhythmische Klicken seiner Klauen setzte erneut ein, und eine Zeit lang war nichts als dieses eine Geräusch zu hören, das von den Wänden des schummrigen Zimmers widerhallte. »Ein weiteres Kind ist tot aufgefunden worden. Eine schreckliche Entwicklung. Schon wird nach Rache an den Häretikern gerufen. Schon wird der Ruf nach Vergeltungsmaßnahmen laut.«
Ich konzentrierte mich darauf, eine undurchdringliche Miene aufzusetzen. Die Häretiker sind ein nützlicher Sündenbock für die Rundaugen, doch diese ständige Bedrohung sorgt unter anderem dafür, dass Ling Chis Leute nicht aus der Reihe tanzen. Worüber beklagte er sich eigentlich?
Ling Chi gab dem Jungen ein Zeichen – der brachte ihm erneut die Pfeife. Nachdem er die Lippen ans Mundstück gesetzt hatte, spuckte er eine eindrucksvolle Wolke stinkigen Rauchs aus. »Ich habe mir
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