Der Herr der Welt
davon ab.
Heute ist er verwildert. Kaum jemand verirrt sich noch hierher, erst recht nicht nach Einbruch der Dunkelheit.
Die Gradierwerke sind jedoch noch immer in Betrieb. Salzhaltige Sole rieselt die Schwarzdornhecken herunter und sorgt so auch jetzt für eine fröstelnde Kühle. Es riecht nach Fisch und Seetang, und vor meinen Augen entsteht die Vision eines schlickschwarzen unendlichen Watts, auf dem riesenhafte Walleiber sich in Todeskrämpfen wälzen.
Ich beeile mich, die Gradierwerke zu passieren. Hier, gleich eine Querstraße weiter, muß sie wohnen. Ich suche die Nummer zwanzig. Es ist eines der typischen, um die Jahrhundertwende erbauten Häuser. Seine einst stuckverzierte, jetzt jedoch zerbröckelnde Fassade grinst mich an wie an lepröses Antlitz. Kein Mensch ist außer mir auf den Straßen. Hinter vielen Fenstern ist es dunkel. Dort, wo Licht brennt, sind die Vorhänge zumeist zugezogen. In besagtem Haus brennt nur hinter einem einzigen Fenster Licht. In der ersten Etage. Ich ahne, ich spüre, nein, ich bin mir sicher, daß sich meine Angebetete dort aufhält.
Rasch erklettere ich einen Baum, der sich direkt gegenüber dem erleuchteten Fenster befindet. Ich bin ein sehr geschickter Kletterer. In all den Jahren meiner geheimen Leidenschaft habe ich diese Geschicklichkeit zur Meisterschaft entwickelt.
Dann hocke ich auf dem Baum. Ducke mich in seinen Ästen, bis mein Schatten mit ihm verwächst. Auch darin habe ich eine gewisse Meisterschaft entwickelt. Würde jetzt noch jemand zufällig hinaufblicken, er würde mich nicht entdecken, so perfekt beherrsche ich dieses Mimikry, das mich eins werden läßt mit der mich umgebenden Dunkelheit.
Ich fluche. Die Vorhänge sind zugezogen. Kein auch noch so winziger Spalt erlaubt einen heimlichen Blick in das Zimmer hinein. Was soll ich tun? Aufgeben? Morgen wiederkommen?
Nein, ich spüre die wachsende Erregung, die einen Aufschub mei-ner Befriedigung nicht erlaubt. Ich warte fast zwanzig Minuten, in denen der Nebel in meine Kleidung dringt und jede Faser meines Körpers mit seiner klammen Kälte tränkt. Dann habe ich einen Einfall. Ich breche einen Zweig ab, ziele kurz und werfe ihn gegen das Fenster. Gespannt warte ich. Zwei, drei Sekunden vergehen .
Dann werden die Vorhänge zurückgezogen, und das Gesicht Laura Gabrinis erscheint. Sie schaut irritiert, öffnet das Fenster, lehnt sich heraus. Vielleicht glaubt sie, ein Vogel sei gegen die Scheiben geflogen. Ihr Gesicht befindet sich nur wenige Meter von meinem entfernt. Plötzlich scheint sie meinen Blick zu spüren, doch ich bin sicher, daß sie mich nicht sieht.
Fröstelnd zieht sie die Schultern hoch, schließt das Fenster wieder und zieht die Vorhänge vor. Diesmal jedoch habe ich Glück. Ein kleiner Spalt klafft zwischen ihnen. Ich jubiliere im Stillen, während meine Erregung wächst.
Ich vermag nur einen Bruchteil des Zimmers zu überblicken, aber zu meinem grenzenlosen Glück hält sich Laura Gabrini gerade dort auf. Sie sitzt, den Rücken mir zugewandt, an einem Sekretär und schreibt. Wieder versuche ich, mit meinen Gedanken in sie zu dringen, ihre Krankheit zu erspüren, aber meine Kraft versagt bei ihr nach wie vor.
Ich werde gestört, als plötzlich Schritte auf dem raschelnden Laub erklingen. Ein abendlicher Fußgänger, der einen Dackel an der Leine mit sich führt. Der Hund hinkt; ich diagnostiziere eine bösartige Geschwulst in seiner rechten Vorderpfote. Noch drei Monate, und er wird eingeschläfert werden. Doch jetzt scheinen seine Lebensgeister zu erwachen. Er scheint mich zu wittern und gebärdet sich wie toll. Kläffend springt er vor und stellt sich auf die Hinterpfoten.
Verdammter Köter! denke ich, wage aber nicht, mich zu rühren.
Sein Besitzer reißt ihn zurück. »Was ist denn in dich gefahren, Harry!« tadelt er den Vierbeiner. »Bist doch sonst nicht so munter!«
Ich verschmelze noch mehr mit der Dunkelheit, während der Mann forschend in den Baum blickt.
»Was hast du denn da oben gesehen? Ein Eichhörnchen?«
Verschwinde, du alter Scheißer! denke ich. Der Mann ist über siebzig. Er ist halb blind. In zwei Jahren wird er sein Augenlicht völlig verloren haben. Dann braucht er einen Blindenhund, denke ich gehässig. Aber nein, ich sehe sein Herz. Sieht schlimm aus ... er wird die zwei Jahre nicht mehr überstehen. Eher ein Fall für den Totengräber als für meine Praxis.
Endlich kann ich mich wieder auf Laura Gabrini konzentrieren, ihre ätherische Schönheit in
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