Der Herr der Welt
Junge von vielleicht acht Jahren. Er schien völlig unversehrt. Mehr noch: Er atmete!
Nona legte ihr Ohr auf die Brust des Jungen und horchte.
»Lebt er?« fragte Kierszan gespannt.
Nona schüttelte den Kopf. Sie war verwirrt. »Er atmet, aber ich kann keinen Herzschlag hören. Als ob sein Atem nur noch ein Reflex ist, den er mit in den Tod genommen hat.«
Kierszan wollte sie beiseiteschieben, um den Jungen ebenfalls zu untersuchen, da schlug dieser die Augen auf.
Nona prallte zurück. Die Augen waren nicht die eines Lebenden. Sie waren längst erloschen. Und trotzdem blickte der Knabe sie damit an. Aus seiner Kehle drang ein heiserer Laut.
Plötzlich waren weitere Geräusche zu vernehmen. Gehetzt blickten sich Kierszan und Nona um. Die Platten der anderen Särge wurden von innen bewegt. Kinderhände wurden sichtbar.
»Sie erwachen!« flüsterte Kierszan. »Die Toten erwachen!«
Die Kinder setzten sich in ihren Särgen auf. Sie befanden sich in unterschiedlichen Verwesungsstadien. Am schlimmsten sah eines der Mädchen aus. Ihr Gesicht bestand nur aus Knochen, die von einigen wenigen Sehnenfetzen zusammengehalten wurden. Ihre Hände waren knochige Krallen. Sie streckte sie nach Nona aus.
»Raus hier!« schrie Kierszan. Er griff nach Nonas Hand und zog sie in Richtung Ausgang. Die Kinder reagierten erstaunlich rasch. Blitzschnell waren zwei von ihnen aus den Särgen geklettert und versperrten ihnen den Weg.
»Wrr wlln euerrrr Lbnn!« Ihre Kehlen waren verdorrt und zerstört.
Was aus ihnen sprach, war allein die Erinnerung, der Wille - und die Gier. Sie wollten ihr Leben! Was auch immer es ihnen geben konnte, sie waren scharf darauf!
»Wir müssen uns den Weg freikämpfen!« sagte Nona.
»Gegen Kinder?« flüsterte Kierszan entsetzt.
»Es sind keine Kinder!« antwortete Nona. »Es sind nur ihre Körper. Das, was sie zum Leben erweckt, ist die personifizierte Hölle!«
Eines der Kinder - das Mädchen mit dem Totenschädel - sprang auf sie zu. Ehe Nona es verhindern konnte, schnappte es mit den Zähnen nach ihrem Arm. Gleichzeitig fuhren die Krallenhände schmerzhaft über ihre Brüste.
Nona nahm den Kopf des Monsterkindes und versuchte ihn weg-zuzerren. Ihr teuflischer Gegner verfügte über außergewöhnliche Kräfte. Die Kiefer schnappten nur noch fester zu. Nona schrie auf vor Schmerz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Im nächsten Moment spürte sie Kierszan an ihrer Seite. Er nahm den Unter- und Oberkiefer von Nonas Gegnerin und drückte ihn auf. Das untote Kind gab ein wütendes Knurren von sich, als es spürte, daß es Kierszans Kräften nicht gewachsen war.
Ein weiteres Kind - ein Junge mit fast menschlichen Gesichtszügen - warf sich auf Kierszan. Kierszan empfing ihn noch in der Luft mit einem Tritt, der den Jungen gegen die Wand warf. Dann schüttelte er das Mädchen, dessen Kiefer er noch immer hielt, von sich ab.
Nona hatte unterdessen den Ausgang erreicht. Zwar konnte sie sich nicht in eine Werwölfin verwandeln, aber auch so verfügte sie über genügend Kampferfahrung. Und die sagte ihr, daß ihre einzige Chance in der Flucht lag.
Zwei weitere Kinder warfen sich auf Kierszan. Er schlug wütend um sich, dann schloß er zu Nona auf.
»Wohin?« keuchte er.
Auf einer Anhöhe war ein verfallenes Haus zu sehen. Nona konnte sich nicht erinnern, daß es schon vorher dort gestanden hatte. Aber auf diesem Friedhof gab es nicht keine Regeln. Ihr Verstand akzeptierte es einfach.
»Vielleicht können wir uns in dem Haus verschanzen«, sagte sie, während sie gleichzeitig loslief. Die ersten Kinder kamen bereits aus der Gruft gekrochen.
Noch während Nona und Kierszan liefen, begann sich der Friedhof zu verändern. Zuvor war es totenstill gewesen; nun waren von allen Seiten Geräusche zu hören. Steinerne Platten, die sich wie von selbst von Sarkophagen schoben. Splitterndes Sargholz. Umstürzende Grabsteine. Die ganze Luft war erfüllt vom Lärm der erwachenden Toten. Am schlimmsten waren jedoch die Laute, die aus der Erde drangen. Nona hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Aber sie mußte laufen. Laufen. Laufen!
Endlich hatten sie das Haus erreicht. Kierszan warf sich gegen die Eingangstür. Sie gab nicht um einen Millimeter nach.
»Das Fenster!« rief Nona. Sie bückte sich nach einem großen Stein. Splitternd ging das Glas zu Bruch. Vorsichtig kletterte sie über die Fensterbank in das Innere des Hauses. Kierszan folgte ihr. Als sie noch einmal über die Schulter
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