Der Herr der zerstörten Seelen
weiter.«
»Wir können uns ja in meinen Wagen setzen«, schlug Do vor.
Er hielt ihren Arm, als habe er Angst, sie könne ihm entwischen, und schob sie dem Eingang zu.
Sie gingen zum Frontera und stiegen ein. Do ließ den Motor laufen, schaltete die Standheizung an, und das Gebläse erfüllte den Wagen sofort mit einem Strom angenehmer Wärme. »Drei Minuten«, sagte Timo. »Länger kann ich nicht.« Und dann mit einem halben Seitenblick: »Wir haben den Laden voll. Wer hätte gedacht, daß bei dem Sauwetter so viele antanzen. Was wollen Sie? Wer hat Sie geschickt?«
»Iris Weingart.«
»Kenn' ich nicht.«
»Aber Sie kennen meine Tochter.«
»So?«
»Kati. Kati Folkert.« Im Dunkeln sah Dorothea ihn an. »Die kennen Sie doch?«
Er schwieg.
»Das können Sie ja wohl beantworten? Warum sagen Sie nichts?«
Er griff in die Tasche nach seinen Zigaretten, holte ein Päckchen heraus und hielt es ihr hin.
Do schüttelte den Kopf.
Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch gegen die Windschutzscheibe. »Und um sie zu suchen, sind Sie mitten in der Nacht hier herausgefahren?«
»Ja.«
»So was haben Sie doch sonst nie gemacht.«
»Sie kennen Kati also?«
»Kennen? Was heißt kennen. Sie kennen doch auch jede Menge Leute. Sie sind ja Journalistin, nicht wahr? Kennen Sie die, mit denen Sie zu tun haben? Oder kennen Sie Ihre Freunde? Kennen Sie sie wirklich?«
»Kann ich jetzt doch eine Zigarette haben?«
Timo gab ihr Feuer. Do legte den Kopf gegen das Polster und schloß die Augen, als sie den ersten Zug nahm. »Vielleicht haben Sie recht. Ich bin hier herausgefahren, weil ich meine Tochter kennenlernen will. Nein, weil ich sie kennenlernen muß …«
Sie erzählte, was geschehen war, und Timo hörte schweigend zu. Ein VW-Bus kam auf den Parkplatz geprescht, spuckte eine Ladung junger Leute aus, und als sich die Tür zur Disco öffnete, wehten Geschrei und das Wummern der Musik zu ihnen herüber.
»Hätten Sie das nicht schon früher ein bißchen versuchen sollen?« sagte Timo schließlich. »Das mit dem Kennenlernen.«
Do gab keine Antwort. Sie wollte, konnte sich nicht verteidigen. Sie fühlte sich zu erschöpft. Ihre Knie begannen wieder zu zittern.
»Und sie hat alles verbrannt?« fragte er.
»Ja.«
»Feuer reinigt.«
»Was haben Sie mit ihr besprochen, Timo? Was hat sie zu Ihnen gesagt? Was wollte sie von Ihnen wissen?«
»Zuviel …« Er lachte leise. »Außerdem, glauben Sie bloß nicht, daß Sie die einzige Mutter sind, die in diesen Schuppen kommt, um ihre Tochter rauszufischen. Aber Kati, das war ein bißchen anders, das war sogar ziemlich anders … Kati ging ins Extrem … war am Kippen. Deshalb hab' ich sie mir mal vorgenommen. Und dann kam sie immer wieder. Sie hat mich auch nach Starnberg eingeladen, in Ihr Haus, und als ich das sah, da konnte ich mir dann alles vorstellen …«
»Was?«
»Was? – Sehen Sie sich doch hier um. Warum, glauben Sie, kommen die alle in eine so miese Baracke wie das ›Bali‹?«
Sie schwieg.
»Ich will Ihnen was sagen: In Goa spreche ich manchmal mit einem alten Mann, von dem ich ziemlich viel halte. Wollen Sie wissen, was der sagen würde? Der würde – sinngemäß, damit Sie begreifen – sagen: Alles, was ihr im Westen abzieht, euer Fortschritt, eure Technik, euer Erfolgsglaube, euer Streß, die Hektik und euer ganzer bescheuerter Vergnügungsrummel, das ist nichts anderes als ein einziges Davonrennen … Ja, Flucht ist das. Die Flucht vor den drei einzigen wahren Problemen, die der Mensch in seinem Leben zu bewältigen hat: Erstens die Einsamkeit, zweitens der Sinn von dem, was du tust, und drittens der Tod. Ihr aber wollt das nicht wahrhaben, würde er sagen. Ihr seht es ja nicht einmal. Wie sollt ihr also diese Fragen lösen? Oder euch nur darauf vorbereiten?«
»Und darüber habt ihr gesprochen?«
»Kati hatte eine Menge Fragen.« Er deutete auf den matt erleuchteten Kreis der Uhr am Armaturenbrett: »Noch zwei Minuten, okay? Aber wie soll ich Ihnen in zwei Minuten erklären, was ich von Kati weiß? Wie soll ich Ihnen überhaupt etwas erklären, wenn Sie sich bis jetzt selbst noch nie gefragt haben, was eigentlich mit Ihrer Tochter los ist?« Timo Konietzka redete länger als zwei Minuten …
Es war kurz nach zwei Uhr nachts, als Do wieder zu Hause ankam. Diese Strecke hatte sie geschafft, ohne zu wissen, wie.
In Starnberg war es kälter. Hier lag noch Eis. Do merkte es, als sie die Gartentür öffnete und zur Treppe ging, und
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