Der Herr der zerstörten Seelen
dann ein zweites Mal, als ihr auf der Treppe die Sohle des rechten Schuhs wegrutschte, sie in der Panik des Fallens wild und vergeblich nach dem Geländer suchte, stürzte und einen ekelhaft grellen Schmerz am Hinterkopf spürte.
Sie blieb liegen.
Zuviel … es war einfach zuviel! Liegenbleiben, die Augen schließen … Das Hämmern im Schädel – wenn schon! Augen geschlossen halten, nichts denken, nicht länger …
»Mensch, Do? Hast du dir weh getan?« Eine Stimme … Sie kam von irgendwoher, von sehr weit weg, aus irgendwelchen Lichtjahr-Entfernungen. »Was ist, Do?«
Jemand richtete sie auf.
Als sie die Lider öffnete, sah sie direkt in Jans hellen, wachsamen Arztblick.
»O Mist, Jan«, flüsterte Do schwach. »Verdammter Mist …«
»Richtig. Und es paßt ziemlich auf alles, was? Wie ist das passiert?«
»Ausgerutscht. Gefallen«, stöhnte sie kläglich. »Den Kopf aufgeschlagen.«
Die tastenden Finger an ihrem Hinterkopf waren zart wie ein Hauch. »Eine Beule, sonst nichts.«
»Nein?« Sie ächzte anklagend, während Jan ihr auf die Beine half. »Gar nichts? Überhaupt nichts?«
»Diese therapeutische Untertreibung wende ich bei allen schwierigen Patienten an.« Nicht einmal in dieser Situation konnte Jan auf seine Witzeleien verzichten.
Sie ließ sich die Treppe hinaufhelfen, war sogar dankbar für seine Hand – und nicht allein für die Hand, sondern für die Nähe, den ganzen Mann. Denn das war ja das Merkwürdige und war es eigentlich immer gewesen: So oft sie sich stritten, so wütend Do auf Jan sein konnte, so sehr ihre Meinungen auseinandergehen mochten, so rabiat sie sich während ihrer Ehe wegen irgendwelcher Banalitäten bekriegen konnten und so fremd sie sich am Ende wurden – wenn Jan dann auftauchte, genügte manchmal schon ein Sich-Ansehen, ein stummes Nebeneinander-Hergehen, eine Berührung der Hand, um Dorothea zu besänftigen.
»Unbewußte Kongruenz«, hatte es Jochen Steppat, einer der Psychologen genannt, den Do nach Ihrer Ehepleite aufsuchte. »Natürlich ist mir klar, daß es sich bei euch um vollkommen verschiedene Charakter-Strukturen handelt. Jan zupackend, lustbetont, abgehoben, du wiederum der klassische Einser-Typ, geprägt durch die Kindheitserfahrung einer fordernden Mutter, der man ständig gefallen will. Bloß kein Sich-gehen-Lassen. Statt dessen Ideale – und die natürlich korbweise. Aber wie leicht brechen die zusammen und halten der Wirklichkeit nicht stand?«
Do wußte zwar nicht, was ein Einser-Typ sein sollte, aber daß Ideale der Wirklichkeit nicht standhalten, hatte sie erfahren. Lange genug.
Auch bei diesem Schrankmenschen von Bayern …
Oben im Haus beugte Jan sich über sie, zog ihr die Jacke aus, dann die Stiefel, sprach von Zirkulationsstörungen, eiskalten Füßen und daß sie aussähe, als sei sie gerade zwanzig Jahre älter geworden. Do nickte nur. Zwanzig Jahre? Nein, vierzig … Tot war sie. Tot …
Sie schloß die Augen.
Irgend etwas knisterte.
Sie fuhr hoch. »Feuer! Wer hat denn das Feuer gemacht?«
»Wer schon? Bea erzählte mir, daß du angerufen hättest, weil irgendwas passiert sei. Also fuhr ich hierher. Und die Hanne erzählte mir dann alles. Und weil mich das Rumhocken und Warten verrückt machte und auch die Moser mir nicht sagen konnte, wo du stecktest, hab' ich mich halt beschäftigt.«
Den Namen Kati hatte Jan nicht ein einziges Mal ausgesprochen.
Die Müdigkeit war wie klebriger, zäher, kriechender Leim. Nur der scharfe pochende Schmerz in ihrem Schädel hielt ihr Denken noch wach. »Jan?« flüsterte sie. »Sag's doch endlich. Sag, daß ich ein armseliger, unmöglicher Versager bin …«
»Und warum?«
»Du weißt doch alles. Hanne hat dir doch auch von dem Brief erzählt. Und dann dieser Wahnsinn mit dem Scheiterhaufen … Sie hat nicht nur ihre Sachen, ihre Bilder, ihre Kleider verbrannt, Jan, sie hat uns mit verbrannt. Oder zumindest das, was sie für uns empfindet. Und das war in letzter Zeit wohl nur Haß. Oder glaubst du etwas anderes? Warum? Warum nur, Jan?«
Er schwieg. Er nahm das Glas Cognac, das er ihr eingeschenkt hatte, und trank es selbst.
»Warum hat sie's getan?« wiederholte Dorothea, und ihre Stimme zitterte. »Ich denke es die ganze Zeit. Immer nur das.«
»Wo warst du überhaupt?«
»In Neubiberg. In einer Disco …« Ihr Kopf sackte zur Seite. Endlich war es soweit: Die Tränen lösten sich, langsam rannen sie rechts und links der Nase entlang zum Mundwinkel, liefen über das Kinn, tropften
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