Der Herr des Traumreichs
mochte es wohl sein, in Todesangst durch die Wälder zu irren, bis man vor Kälte oder Hunger starb oder von den Krallen eines hungrigen Bären zerrissen wurde?
Für einen Prinzen sicher nicht leichter als für den Sohn eines Heilers.
Weit vorn bewegte sich etwas. Ein leerer Karren, stabil gebaut, von zehn kräftigen Pferden gezogen. Auf der Ladefläche war ein riesiger Eisenkäfig festgeschraubt. Schon von ferne war leises Kettengeklirr zu hören.
»Vater?«
Josephs Gesicht wirkte verkniffen. »Ein
Gefangenentransport, Garth. Er kommt sicher von den Adern, um die nächste Ladung Sträflinge aus Ruens Kerkern zu holen.«
Garth drehte sich der Magen um, als der Wagen näher kam.
Er war umgeben von einer Pestwolke aus Gestank und fetten Schmeißfliegen. Als er vorüberpolterte, grüßte der Kutscher fröhlich herüber. Auf dem schmutzigen Boden des Käfigs lagen Ketten und Fußeisen. Garth sah, daß sie mit Blut verkrustet waren, und ahnte zum ersten Mal, was ihn in den Schächten der Glomm-Minen erwartete.
»Wie lange müssen die Sträflinge dort unten arbeiten, Vater?«
In Josephs dunklen Augen stand tiefes Mitleid. »So lange, bis sie sterben, Garth. Die Zwangsarbeit in den Glomm-Minen ist eine Strafe auf Lebenszeit.«
»Das finde ich… grausam.«
»Das Glomm ist Escators wichtigste Ausfuhrware, Garth.
Hätten wir es nicht, wir wären ein wahrhaft armes Land. Aber kein freier Mann ist bereit, in den Minen zu arbeiten, und deshalb schickt man die Sträflinge dorthin und läßt sie schuften, bis sie sterben.«
Er schaute nach vorn. Die Straße war wieder leer. »Nur wenige überleben länger als zwei bis drei Jahre. Sie dürfen niemals an die Oberfläche. Nicht einmal nach ihrem Tod. In den Adern gibt es aufgelassene Schächte, die weit in die Tiefen der Erde hinabreichen. Dort wirft man die Leichen hinein.«
Spät am Nachmittag des dritten Tages lag Myrna vor ihnen.
Die kleine Stadt, ein feuchtes, trostloses Nest, war nur zur Versorgung der Glomm-Minen angelegt worden. Die Straßen waren nahezu verlassen; nur ein paar Frauen mit ihren Kindern, Angehörige der Sträflingswärter, gingen von Geschäft zu Geschäft; sie schlurften mit hängenden Schultern dahin, als hätte sich die beklemmende Stimmung in den Adern durch ihre Ehemänner und Väter oder einfach durch die Atmosphäre auf sie übertragen. So nahe an der Küste war es ständig feucht, und an der Kälte hatte bisher auch der Frühling nichts ändern können. Alle Gebäude, ob aus Holz oder Stein, waren schwarz und verrußt, und man sah auch gleich, woher das kam. Der klebrige schwarze Staub war allgegenwärtig.
Im kalten Licht der Dämmerung wirkte die Stadt besonders bedrückend und abweisend.
»Daran mußt du dich gewöhnen, Garth«, sagte Joseph, als sein Sohn die dünne Glommschicht abwischen wollte, die sich binnen weniger Minuten auf seinem Mantel abgesetzt hatte.
»In den nächsten Wochen wirst du Glommstaub essen, atmen und trinken.«
Garth litt schon jetzt unter Übelkeit und nickte nur stumm.
Joseph verbrachte seit zwanzig Jahren alljährlich drei Wochen in den Minen und kannte sich aus. Sie ritten an der Stadt vorbei. Nach einer Viertelstunde stießen sie auf eine Häusergruppe, die im schwindenden Licht kaum noch zu erkennen war. Vor dem ersten Gebäude hielt Joseph sein Pferd an und stieg ab.
»Du wartest hier, Garth. Ich will mich nur beim Aufseher melden. In die Minen fahren wir erst morgen früh ein.
Wenigstens heute nacht werden wir noch gut schlafen.«
Er betrat das Gebäude, und Garth nützte die Gelegenheit, um tief durchzuatmen – was er sofort bereute – und sich umzusehen. Die Minen lagen westlich von ihm, und gleich dahinter erstreckte sich die lange einsame Küste des Witwenmachermeers. Die meisten Glommvorkommen fanden sich am Rand der Ozeane. Garth hatte gehört, daß die Adern an manchen Stellen bis zu einer halben Meile weit unter den Meeresboden reichten.
Das eigentliche Bergwerk befand sich jedoch zwischen der Küste und den elenden Gebäuden. Kaum zu erkennen in dem dicken, zähen Nebel, der sich von der glatten grauen Meeresfläche landeinwärts wälzte, ragten große schwarze Schatten in den Abendhimmel. Garth kniff die Augen zusammen, um die bizarren Höcker genauer betrachten zu können. Wahrscheinlich waren es Glommhaufen, die darauf warteten, auf Schiffe verladen und entlang der Küste nach Ruen oder gar nach Narbon befördert zu werden. Garth hatte die staubverkrusteten Glommschiffe oft genug
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