Der Herr des Traumreichs
letzten Tages müde zur Schreibstube des Aufsehers schlurften. »Was ist ein Wechselbalg?«
Joseph sah seinen Sohn verwundert an. Garth hatte es am Ende ihrer Schicht ganz und gar nicht eilig gehabt, die Stollen zu verlassen. Joseph hatte ihn mehrmals rufen müssen, bis der Junge endlich zum Aufzug geschlendert kam, nicht ohne immer wieder über die Schulter in die Finsternis zurückzuschauen.
»Ein Wechselbalg?« Vom Meer blies ein kalter Wind herüber, und Joseph zog seinen Mantel fester um sich. »Ein Wechselbalg ist ein Kind, das gegen ein anderes ausgetauscht wird.« Er überlegte kurz. »Zum Beispiel, wenn die Mutter eine Totgeburt hatte, ihrem Gatten aber um jeden Preis einen Erben schenken will. Warum fragst du?«
Garth zuckte die Achseln. »Ich habe das Wort im Traum gehört, nichts weiter.«
Joseph blieb vor der Tür zur Schreibstube stehen, legte die Hand auf den Türknauf und sah Garth forschend an. »Junge, möchtest du mir irgend etwas sagen?« Er hatte schon seit Tagen den Verdacht, daß Garth ihm etwas verheimlichte.
Selbst wenn man die Umstände berücksichtigte, unter denen sie arbeiten mußten, war sein Sohn auffallend still und in sich gekehrt.
Doch nun lächelte er seinem Vater freundschaftlich zu, und Joseph war beruhigt. »Es geht mir gut, Vater. Ganz bestimmt.
Können wir jetzt hineingehen, oder müssen wir in diesem Wind stehenbleiben?«
In der Schreibstube war es warm und hell – Garth stellte fest, daß sie der sauberste Raum war, den er in dieser gottverlassenen Ecke von Escator bisher gesehen hatte. Er war zum ersten Mal hier, denn wenn sein Vater einen seiner seltenen Besuche machte, war er selbst immer anderweitig beschäftigt gewesen.
Doch heute abend mußte Joseph sich vom Dienst abmelden und hatte Garth aufgefordert, ihn zu begleiten.
Ein großer Mann mit dichtem feuerrotem Haar saß hinter einem Schreibtisch, der vor einem prasselnden Feuer stand.
Nun erhob er sich. »Joseph Baxtor! Schon fertig?«
Joseph lächelte und schüttelte ihm die Hand. »Fennon, ich möchte Euch meinen Sohn Garth vorstellen. Er war in diesem Jahr zum ersten Mal in den Adern. Garth?«
Garth trat vor, lächelte höflich und schüttelte dem Aufseher die Hand.
»Garth, das ist Fennon Furst. Er ist hier Minenaufseher – wie lange schon? Seit zwanzig Jahren?«
Garth lächelte weiter, obwohl es ihn die größte Überwindung kostete, ließ aber die Hand so schnell wie möglich los.
Furst lachte. »Nicht ganz, Joseph. König Cavor berief mich, als er den Thron bestieg. Es sind also nicht mehr als sechzehn Jahre, auch wenn es mir oft vorkommt, als wären es sechzig!«
Die Männer plauderten weiter, aber Garth hörte nicht mehr zu. Furst? Diesen Namen hatte Maximilian genannt, als Garth ihn fragte, wer ihn hierhergebracht habe. Hatte er nur gemeint, daß Furst ihn in seiner Eigenschaft als Aufseher unter Tage geschickt hatte? Aber nein, Maximilian war seit mehr als siebzehn Jahren verschollen, und Furst war erst seit sechzehn Jahren hier.
Vielleicht gab es noch einen anderen Furst… vielleicht aber auch nicht. Garth runzelte die Stirn, aber er konnte das Rätsel nicht lösen.
Joseph bemerkte seine Geistesabwesenheit, und auch sein Lächeln verblaßte ein wenig. Er hatte sich in ein Buch eingetragen, nun stand er auf. »Komm, Garth. Ein Bad, eine warme Mahlzeit und dann früh zu Bett. Morgen in aller Frühe geht es nach Hause.«
Das Medaillon
Garth fiel es schwer, sich wieder an den Alltag zu gewöhnen, nachdem er mit seinem Vater nach Hause zurückgekehrt war.
Er lernte fleißig, arbeitete Seite an Seite mit Joseph und lächelte seine Eltern und die Patienten, die zur Behandlung kamen, freundlich an. Seinen ›heilenden Händen‹ entströmte reine Kraft in ständig wachsender Stärke. Er lachte mit seiner Mutter und half ihr im Haus, wenn Joseph ihm gelegentlich einen Vormittag oder Nachmittag freigab. Manchmal nützte er diese Mußestunden auch dazu, die alten und weisen Männer auf Narbons Marktplatz oder in den Zunfthallen wie nebenbei, aber doch sehr gezielt nach dem Manteceros zu befragen.
Hatten sie jemals von ihm gehört, gab es ihn wirklich, oder war er nur eine Legende? Aber die Männer lächelten nur und wunderten sich kopfschüttelnd, womit sich die Jugend beschäftigte. Dabei blieb es. Der Frühling ging in den Sommer über, die Tage wurden länger, die Luft war erfüllt vom Lärm der geschäftigen Hafenstadt und vom berauschenden Duft der Sommerblumen, die die Straßenhändler
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