Der Herr des Traumreichs
an ihren Ständen feilhielten. Nonas Küche war und blieb ein Hort des Friedens, ein niemals versiegender Quell von heißem süßem Tee und Rosinenbrötchen.
Dennoch war alles anders geworden.
Maximilian verfolgte Garth in seinen wachen Stunden und bearbeitete auch weiterhin die Felswand seiner Träume. Jener Alptraum, in dem die See den Fels durchbrach und die Fluten Maximilian überspülten, suchte ihn in jeder vierten oder fünften Nacht von neuem heim. Maximilian versuchte nie, vor dem Wasser zu fliehen, sondern wartete schicksalsergeben, bis die Wogen über ihm zusammenschlugen.
Manchmal verschlang das Meer in diesem Traum auch nicht den erwachsenen Maximilian, sondern einen weinenden, in wollene Tücher gewickelten Säugling.
Garth lernte, nicht zu schreien, um seine Eltern nicht zu alarmieren, aber er fuhr jedesmal wieder mit weit aufgerissenen Augen und nach Luft ringend in die Höhe, starrte die Decke über sich an und bildete sich ein, ein tödliches Netz aus Dutzenden von Haarrissen über die ganze Fläche kriechen zu sehen.
Joseph sah sich das einen Mond lang an. Eines Nachmittags, nachdem der letzte Patient gegangen war, nahm er sich seinen Sohn vor.
»Garth, was ist los mit dir? Nein«, mahnte er streng, als sein Sohn widersprechen wollte, »erzähl mir nicht, es sei alles in Ordnung. Ich sehe doch, daß irgend etwas ganz und gar nicht stimmt.«
Sie setzten sich auf zwei Stühle, die vor dem Fenster standen.
Ein leichter Wind dämpfte den Lärm, der vom Hafen und von den Straßen hereindrang. Garth betrachtete seine Hände.
Tagtäglich überlegte er, ob er Joseph von Maximilian erzählen sollte, aber tagtäglich wuchs auch seine Angst. Er ahnte, daß er seinen Vater in Gefahr brächte, wenn er ihn zu diesem Zeitpunkt in die Sache hineinzöge. Woher dieses Gefühl kam, wußte er nicht – vielleicht hatte es irgendwie mit seinen
›Händen‹ zu tun.
Über Maximilian mußte er also schweigen, aber er konnte immerhin über die Adern sprechen – diesen Ort des Grauens, der ihn ebenso belastete wie den Mann, der dort gefangen war.
Anfangs kamen die Worte nur stockend, und er hob den Blick nicht von seinen Händen. Er sprach von seinem Entsetzen angesichts der Bedingungen im Bergwerk und angesichts der Männer, die darin so grausam schuften mußten. Er sprach von dem rötlichgelben Pilz, der sich vom Glommstaub nährte, im Dunkeln wucherte, sich auf der Haut der Sträflinge ansiedelte und – wenn man nichts dagegen unternahm – mit der Zeit die Muskeln zerfraß und Entzündungen verursachte, die zum Tod führten. Auch von dem ekelerregenden allgegenwärtigen Glommstaub sprach er, diesem klebrigen, schwefelhaltigen Zeug, das in Kehle und Atemwege drang und irgendwann durch seine bloße Anwesenheit tötete – wobei das Keuchen und Röcheln viele Jahre durch die Adern schallte, bis sich die Männer endlich die Lunge aus dem Leib gehustet hatten.
Joseph hörte schweigend zu, und als Garths Redefluß langsamer wurde und schließlich versiegte, beugte er sich vor und nahm seinen Sohn in die Arme. Garth schmiegte sich fest an ihn. Er war froh, endlich den Mut gefunden zu haben, mit seinem Vater über seine Gefühle zu sprechen – schon das verringerte ein wenig den Druck, der Maximilians wegen auf ihm lastete.
»Nun weißt du, warum deine Mutter solche Bedenken hatte, als du mich unbedingt begleiten wolltest«, murmelte Joseph nach einer Weile und lehnte sich mit einem Lächeln zurück.
»Sie mußte mich jahrelang beruhigen, wenn ich meine Alpträume hatte.«
»Was hast du getan, um damit fertig zu werden?«
Joseph strich seinem Sohn die widerspenstigen braunen Locken aus der Stirn und klopfte ihm dann auf die Schulter.
»Ich habe, wie die meisten Heiler, irgendwann gelernt, die Adern für den größten Teil des Jahres zu vergessen. Die drei Wochen, in denen ich notgedrungen dort arbeiten muß, sind nicht Teil meines gewöhnlichen Lebens.«
Garth nickte. Kein Wunder, daß jeder Heiler in Escator gesetzlich verpflichtet werden mußte, alljährlich drei Wochen in den Glomm-Minen zu verbringen – freiwillig hätte sich niemand dazu bereit erklärt.
»Hör zu.« Joseph klopfte seinem Sohn ein letztes Mal auf die Schulter und stand auf. »Ich habe dich in letzter Zeit zu hart herangenommen. Morgen hast du frei. Lauf hinunter zum Hafen, sieh dir die Schiffe an, oder triff dich mit deinen Freunden zu einem Reifenballspiel. Und jetzt riecht es nach Abendessen. Komm, wir gehen zu Tisch.«
Garth
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