Der Herr des Traumreichs
noch ein Früchtebrötchen aufnötigen, bevor er sich abermals an Joseph wandte. »Ich wußte gar nicht, daß du auch dort Patienten…«
Er unterbrach sich. Er hatte es doch gewußt. Als sie vor fast sechs Monden auf dem Weg nach Ruen an den Salzsümpfen vorübergekommen waren, jenem insektenverseuchten Schwemmlandstreifen, der sich meilenweit an der Küste entlangzog, hatte Garth hundert Schritt von der Straße entfernt eine Frau und ihre Tochter vor einer ärmlichen Hütte gesehen.
Bei dieser Gelegenheit hatte sein Vater erklärt, er betreue gelegentlich auch die Familien im Sumpf.
Joseph beobachtete, wie die Erinnerung zurückkehrte. »Es handelt sich um dieselbe Familie, die wir damals auf dem Weg nach Norden gesehen haben«, sagte er. »Ihr Haus ist ganz einfach zu finden – es ist keins von denen, die so tief im Sumpf versteckt sind, daß man nicht nur einen Führer, sondern obendrein noch sehr viel Glück braucht, um sie aufzuspüren.
Die Mutter, Venetia, hat um den Besuch gebeten.«
»Wäre es nicht besser, du übernähmst das selbst?« fragte Garth langsam. Ihm war auch wieder eingefallen, daß sein Vater mit leisem Unbehagen von der Sumpffrau gesprochen hatte. »Vielleicht hat sie ein Anliegen, mit dem ich nicht zurechtkomme?«
Joseph wich dem Blick seines Sohnes aus, wischte aber seine Bedenken mit einer Handbewegung beiseite. »Venetia hat nur verschiedene Kräuter bestellt, die im Sumpf nicht zu finden sind. Aus ihrer Botschaft geht hervor, daß es sich um keine schwere Krankheit handelt. Also keine Sorge, mein Junge, sie beißt nicht. Ich schlage vor, du nimmst folgendes mit…«
Er gab seinem Sohn genaue Anweisungen. Eine Stunde später saß Garth im Sattel, und sein brauner Wallach trottete gemächlich die Straße nach Norden entlang. Hinter ihm hingen zwei prall gefüllte Satteltaschen vom Pferderücken – Joseph war nicht ganz sicher gewesen, was Venetia brauchte, und so hatte er ihm ein halbes Dutzend Pakete mit verschiedenen Pulvern mitgegeben.
Die Sumpfbewohner blieben meist für sich und kamen nur selten nach Narbon. Wenn sie etwas brauchten, schickten sie entweder – wie Venetia – einen Boten oder baten vorüberziehende Reisende, es ihnen zu besorgen.
Bei den Narbonesen hatten sie einen schlechten Ruf, oft wurden sie ungerechtfertigt kleiner Diebereien verdächtigt.
Garth hatte ein ziemlich flaues Gefühl im Magen, als er sein Pferd auf den Pfad lenkte, der kaum sichtbar von der Hauptstraße abzweigte.
Vor ihm dampften die Sümpfe. Die Bäume wirkten verkümmert, kaum höher als ein Mann zu Pferde. Im Augenblick ragten ihre Wurzeln eine volle Armlänge weit aus dem Schlamm; bei Flut befanden sie sich unter Wasser. Der Pfad wand sich auf einem schmalen Kiesdamm zwischen den Bäumen hindurch; jedesmal wenn das Pferd rutschte, schlug Garth das Herz bis zum Hals, und er befürchtete, im Schlamm zu landen. Aber das Tier faßte immer wieder Tritt, und so ging es immer tiefer in den Sumpf hinein.
Venetias Haus lag in gerader Linie kaum mehr als hundert Schritt von der Hauptstraße entfernt, aber der Pfad schlängelte sich volle sechshundert Schritt weit durch die Bäume, bevor die verfallene Hütte auch nur sichtbar wurde. Stechmücken summten im Laub, und Garth war froh, auf seinen Vater gehört und einen Mantel angezogen zu haben, obwohl der Tag warm war. Hier und dort spitzten seltsam stachlige Blumen, einige grau, andere goldgelb, aus dem Schlamm. Die freiliegenden Baumwurzeln waren mit einer dünnen Schaumschicht überzogen.
Sogar das Sonnenlicht fiel in so fransigen Flecken auf den Schlamm, als wäre es von einer Seuche befallen. Der zähe Nebel wand sich in dicken Seilen um Blätter und Wurzelwerk.
Die fernen Schreie der Seevögel klangen wie das Weinen verlorener Seelen im Labyrinth der Ewigkeit.
Garth konnte sich nicht vorstellen, warum irgend jemand freiwillig hier leben wollte. Er hatte gehört, die Stadtväter hätten einmal ins Auge gefaßt, das Schwemmland zu entwässern und in fruchtbares Ackerland zu verwandeln, aber das wäre zu kostspielig geworden, und man hatte den Plan wieder fallengelassen. So säumten die Sümpfe nach wie vor die Küste, und wenn Garth seinen Augen und seiner Nase trauen konnte, waren sie auch nach wie vor Heimat für giftige Pflanzen und Insekten aller Art.
Rechts von ihm schoß ein großer Fisch aus dem Wasser, fiel wieder zurück und wurde mit lautem Schmatzen eingesaugt.
Garths Magen rebellierte. Er wünschte, er hätte das dritte
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