Der Herr des Traumreichs
mitgeteilt, sie wollten einen Spaziergang unternehmen, um die Nachtluft zu genießen.
Liam Bent schaute von seinem Tagblatt auf, das er schon dreißigmal von der ersten bis zur letzten Seite gelesen hatte, und zog nachdenklich eine Augenbraue in die Höhe. »Und wo wollt Ihr so spät am Abend noch hin, meine Freunde?«
Einer der anderen Heiler kicherte in seinen Bierkrug.
Joseph machte ein verlegenes Gesicht. »Tja, äh, mein Sohn Garth hat noch nicht alles gesehen, was Myrna zu bieten hat, und, äh, ich finde, heute abend wäre eine gute Gelegenheit, unangemeldet an gewisse Hintertüren zu klopfen… wenn Ihr versteht, was ich meine.«
Alle lachten – nur Garth schaute verdutzt von einem zum anderen – und zeigten zur Tür. »Dann brauchen wir Euch vor morgen früh nicht zurückzuerwarten!« rief einer, und Joseph grinste verschämt und schob seinen Sohn hinaus.
»Was hatte denn das zu bedeuten?« fragte Garth, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
»Das wirst du hoffentlich erst in vielen Jahren verstehen«, murmelte Joseph, faßte seinen Sohn am Ellbogen und schlug mit ihm den Weg nach Myrna ein.
Schon nach hundert Schritten wurden sie von einem Trupp mißtrauischer Wärter aufgehalten.
»Wer seid Ihr?« fragte der eine und senkte drohend seinen Spieß.
»Heiler Baxtor und mein Sohn Garth«, gab Joseph ruhig zurück. »Wir wollen die Nachtluft genießen.«
Ein anderer Wärter lachte und spuckte aus. »Kein Mensch genießt in diesem gottverlassenen Dreckloch die Nachtluft«, sagte er. »Also, was habt Ihr wirklich vor?«
Joseph wurde rot, und obwohl er sich in Grund und Boden dafür schämte, war das letztlich für ihn und Garth die Rettung.
»Ich will mit meinem Sohn ins, äh, zu den ›Schönen Damen‹
nach Myrna. Ich finde, es ist allmählich an der Zeit, ihn auch mit den spezielleren Genüssen des Lebens bekannt zu machen.«
Alle Wärter brüllten vor Lachen. Josephs unübersehbare Verlegenheit und Garths ebenso unübersehbares Unverständnis hatten die Spannung gelöst. »Zu welchen ›Damen‹?« fragte Garth. Was redete sein Vater denn da?
»He«, sagte einer der Soldaten, »ich kenne die beiden. War mit ihnen unter Tage, als sie das letzte Mal hier waren. Der Junge ist ein gutes Stück gewachsen…«
»Und heute nacht wächst er noch mal!« grölte ein anderer.
»Jedenfalls ist er es und kein anderer. Laßt sie durch.«
Joseph hätte aufgeatmet, wäre ihm die Sache nicht so peinlich gewesen. Garth hatte endlich doch in etwa verstanden, worauf das Gespräch hinauslief, und musterte seinen Vater sichtlich befremdet.
Die Wärter traten kichernd zurück und ließen die beiden Heiler passieren.
»Vater, wie konntest du auch nur andeuten…«
»Immerhin sind wir damit an der Streife vorbeigekommen«, fuhr Joseph ihn an und eilte weiter.
Nach etwa hundert Schritten wurden sie langsamer und sahen sich vorsichtig um.
»Ist das die Stelle, die du meintest?« fragte Joseph.
Garth nickte und spähte angestrengt ins Halbdunkel. »Ja.
Vorstus sprach von einem Hügelchen mit einem Felsen auf halber Höhe des Osthangs. Sieh mal, was hältst du davon?«
»Könnte sein. Ob uns jemand beobachtet?«
»Nein. Wir sind weit genug weg. Vater… wie gut kennst du diese ›Schönen Damen‹ nun tatsächlich?«
Aber Joseph ging schon auf den Felsen zu, und Garth eilte hastig hinter ihm her.
Gustus hatte die beiden entdeckt, sobald sie die Südseite des Hügels umrundeten, und ging ihnen entgegen.
Joseph kam seinem Sohn zuvor. »Wie geht es ihm?« fragte er. Beide hatten die peinliche Szene mit den Wachposten schon wieder vergessen.
»Ich weiß nur, daß man ihn gewaschen hat.« Gustus rollte lautlos den Felsen beiseite. Joseph sah sich die Vorrichtung neugierig an. Der Mechanismus war so geschickt getarnt, daß man ihn nur fand, wenn man genau wußte, wo man zu suchen hatte. »Ich war fast den ganzen Abend draußen, um nach Euch Ausschau zu halten.«
Joseph und Garth sahen sich staunend um. Das Innere des Berges war fast wie ein gemütliches Heim. Der Orden benutzte dieses Versteck offensichtlich schon seit geraumer Zeit.
Vorstus stand auf, als sie den großen Raum betraten. Ihre bewundernden Blicke erfüllten ihn mit Stolz. »Unser Orden verfügt in Escator über mehrere dieser hohlen Berge. Und über andere noch ungewöhnlichere Verstecke. Sie leisten uns…
gute Dienste.«
Doch die beiden spähten bereits an ihm vorbei zu dem Bett an der hinteren Wand. Dort lag reglos eine
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