Der Herr des Traumreichs
»Ich sollte Euch grollen, Garth Baxtor. Ihr seid schuld daran, daß ich aus einer Welt gerissen wurde, die ich kannte und verstand und die mich kannte und verstand. Die Dunkelheit war warm, sie war mein Freund, Garth Baxtor, und diesen Freund habt Ihr mir genommen.«
Garth wollte widersprechen, doch da spürte er die Hand seines Vaters auf der Schulter.
»Laß ihn, Sohn«, sagte Joseph leise. »Das menschliche Gedächtnis hat seine Launen. Er hat mehr gelitten, als du und ich uns vorstellen können, und er wurde – wie er eben selbst sagte – aus einer Welt gerissen, die er kannte und verstand, und in eine andere geschleudert, die ihm wie ein böser Traum erscheint. Der Verlust seiner Erinnerungen ist wie eine Schutzmauer, die er nicht alleine abbauen kann. Er braucht einen Freund, der ihm dabei hilft.«
»Das verstehe ich.« Maximilian hatte die Augen wieder geschlossen, und Garth drehte sich um und sah seinen Vater fest an. »Durch seine Hände strömt etwas in mich über, das mir nicht gefällt, Vater, aber ich weiß nicht, was es ist.
Könntest du vielleicht…?«
Joseph kniete vor dem Bett nieder. »Maximilian?«
Der Prinz öffnete nur widerwillig die Augen und blinzelte ins Licht. »Ja?«
»Ich heiße Joseph Baxtor und war der Leibarzt Eures Vaters.
Als Ihr noch ein Junge wart, haben wir im Hof Eures Palasts zusammen Reifenball gespielt.«
Maximilians Augen leuchteten kurz auf, aber er schwieg.
Joseph strich sich mit breitem Lächeln über den Bart. »Den hatte ich damals noch nicht, und auch die Sorgenfalten um meine Augen waren noch nicht da. Kein Wunder, daß Ihr mich so verständnislos anseht, mein Prinz. Mein Sohn und ich verfügen über die Gabe der ›heilenden Hände‹. Garths Kräfte habt Ihr bereits kennengelernt – nun würde auch ich Euch gern die Hände auflegen, wenn Ihr erlaubt.«
»Gewiß doch.« Maximilian entzog Garth seine Hände und streckte sie Joseph entgegen.
Der strich mit seinen eigenen Händen behutsam darüber.
Dabei hielt er den Kopf gesenkt und atmete in tiefen Zügen.
Garth wußte, daß er sich auf diese Weise sammelte, um sich nichts von den Empfindungen entgehen zu lassen, die aus Maximilians Körper in ihn eindrangen.
Als er endlich den Blick hob, war sein Gesicht ausdruckslos.
»Prinz, darf ich auch Euren Arm berühren?«
Diesmal zögerte Maximilian ein wenig, doch dann nickte er.
Joseph streifte ihm den Ärmel zurück, bis die wulstige Brandnarbe am Oberarm freilag, und legte beide Hände fest darum. Ein kurzer Atemzug, seine Augen öffneten sich weit und wurden gleich wieder schmal. Wenig später nahm er die Hände weg und rollte den Ärmel wieder herunter.
»Ich danke Euch, Maximilian. Ruht Euch jetzt aus. Schließt die Augen und überlaßt Euch der Dunkelheit.«
Maximilian atmete sichtlich auf. »Ich habe Euch zu danken, Joseph. Ich… was meint Ihr, könntet Ihr mir irgendwann noch einmal beibringen, wie man Reifenball spielt?«
Joseph lachte aus vollem Hals. »Ihr und ich? Mein Prinz, ich fürchte, für dieses Spiel sind wir inzwischen beide zu alt, aber Euer Wunsch wäre mir natürlich Befehl. Reifenball! Ha!«
Maximilian lächelte, und bei diesem Anblick verstummte Joseph. »Schlaft wohl, mein Prinz.«
Maximilian nickte und schloß die Augen.
Joseph bedeutete Garth, sich zu entfernen.
»Was hast du gespürt?« drängte der Junge. Niemand verstand es besser als sein Vater, die Empfindungen zu deuten, die er von anderen Menschen empfing; Garth selbst erkannte nur die einfachsten Regungen.
Joseph antwortete nicht sofort. Er faßte seinen Sohn am Arm und führte ihn zurück an den Tisch, wo die Mönche und Ravenna warteten.
Als die beiden Heiler näher kamen, rückten sie zusammen.
Garth und sein Vater setzten sich zwischen Isus und Morton.
»Was ist mit ihm?« fragte Vorstus im Namen aller.
Joseph warf einen Blick auf das Bett, aber Maximilian hatte sich wieder zur Wand gedreht und schien eingeschlafen zu sein.
»Ihm ist im Lauf seines Daseins viel Leid widerfahren.«
Joseph sah in die Runde. »Er hat gelernt, halbwegs damit zurechtzukommen, indem er vergaß. Nun wurde er aus dem einzigen Leben gerettet, an das er sich erinnern kann, und das empfindet er wie einen weiteren Schlag. Er braucht viel Zeit, viel Mut und gute Freunde, um so viel Vertrauen zu entwickeln, daß er die Erinnerungen an seine Vergangenheit zuläßt.«
Joseph verstummte, nahm eine Serviette vom Tisch, öffnete sie und faltete sie wieder zusammen. »Aber das ist
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