Der Herr des Traumreichs
ihre Augen blitzten.
Nun strich sie sich energisch das schwarze Haar aus dem Gesicht.
»Nein«, sagte Joseph und starrte das Mädchen an. »Nein.
Von Ruen aus braucht man zwei bis drei Tage bis nach Narbon.«
Ravenna zeigte jenes raubtierhafte Lächeln, das Garth und Joseph bisher nur von ihrer Mutter kannten. »Ich kann sie noch heute nacht erreichen.«
Es war vollkommen still geworden, dann grinste Vorstus.
»Ihr seid eine noch mächtigere Hexe, als ich annahm, Ravenna. So rettet denn Nona Baxtor, wenn Ihr könnt.«
Das war eine Herausforderung, und Ravenna verstand sie auch so. »Ihr kennt noch nicht einmal die Hälfte meiner Fähigkeiten, Vorstus.« Sie hielt inne. »Seht ruhig zu, wenn Ihr den Mut habt.«
Sie wandte sich an Joseph. »Venetia braucht eine Botschaft von Euch, irgend etwas, um Nona zu überzeugen, daß meine Mutter es gut mir ihr meint und daß es dringend nötig ist, die Stadt zu verlassen. Was schlagt Ihr vor?«
Joseph nagte an der Unterlippe. »Sagt Venetia, ich hätte Nona an einem Siebenttag gebeten, meine Frau zu werden, wir hätten an einem Siebenttag geheiratet und« – das Blut schoß ihm in die Wangen – »an einem Siebenttag sei auch Garth gezeugt worden.« Er räusperte sich, als er die Verlegenheit seines Sohnes bemerkte. »Die Sache mit dem Siebenttag ist ein Scherz, den nur wir beide verstehen. Der einzige Tag der Woche, an dem ich nicht als Heiler tätig bin, ist auch der einzige Tag, an dem ich in jeder Beziehung ihr Ehemann sein kann.«
Ravenna sah ihn lange an, dann beugte sie sich über den Tisch und berührte sachte seine Hand. »Danke«, sagte sie leise.
Gleich darauf sprang sie auf. »Isus, würdet Ihr die Tür für mich öffnen? Nur einen kleinen Spalt, mehr brauche ich nicht.«
Isus schritt zum Eingang und betätigte lautlos den Mechanismus, der den Felsen bewegte. Währenddessen ging Ravenna in der Mitte des Raumes immer wieder im Kreis herum.
Alle hatten geglaubt, Maximilian sei eingeschlafen, doch nun drehte er sich um und sah ihr aufmerksam zu.
Ravenna faltete die Hände so fest vor der Brust, daß sich die Knöchel weiß färbten. Ihr Gesicht wurde starr, und sie murmelte leise vor sich hin. Der eintönige Singsang erfüllte den ganzen Raum. Die anderen verstanden nur hin und wieder ein Wort: Venetia, den Namen ihrer Mutter.
Nach einer Weile zuckten Garth und die anderen zusammen.
Nur Maximilian beobachtete sie auch weiterhin mit unbeteiligter Neugier.
Von Ravennas gefalteten Händen stieg Nebel auf und verdichtete sich allmählich zu einer makellos runden silbernen Kugel.
Nun nahm das Mädchen die Hände auseinander, aber die Kugel blieb erhalten. Ravenna drückte sie zärtlich an die Brust.
Als sie aufblickte, stockte Garth der Atem. Ihre Augen waren so farblos wie der silberne Nebelball.
»Venetia!« rief Ravenna und warf die Kugel in die Luft.
Das Gebilde kreiste fünfmal im Raum umher und wurde mit jeder Runde schneller. Dann raste es in wilder Fahrt schräg nach unten auf die Tür zu. Isus trat hastig zurück und vermied es nur knapp, von ihr getroffen zu werden.
Die Kugel schoß mit leisem Zischen durch die Öffnung und war verschwunden.
»Das war sehr hübsch«, sagte Maximilian in die Stille hinein.
Ravenna drehte sich langsam um und sah ihn an. »Hübsch?
Ja, Maximilian, es war hübsch. Danke.«
Er lächelte ihr mit fiebrig glänzenden Augen zu, dann legte er sich zurück und schlief wieder ein.
Ravenna legte Joseph kurz die Hand auf die Schulter.
»Morgen mittag ist Nona in Sicherheit«, sagte sie und setzte sich. Als sie die Gesichter der Männer sah, mußte sie lächeln.
Maximilians Miene war die einzige, die ihr gefallen hatte.
»Wenn also Nona in Sicherheit ist«, sagte Joseph, »dann werden Garth und ich uns wohl mit Euch auf dieses Abenteuer einlassen… mit Euch und« – ein Blick hinüber zum Bett –
»mit Maximilian Persimius, dem wahren König von Escator.«
Alle lächelten. »Das freut mich«, sagte Vorstus. »Als nächstes sollten wir überlegen, wie wir es anstellen wollen, Maximilian von hier fort und nach Osten in die königlichen Wälder zu bringen. Vielleicht könnten wir ihn mit einem Fuhrwerk hinausschmuggeln, das Vorräte für das Bergwerk befördert.«
Garth und sein Vater sahen sich an.
»Nein«, sagte Joseph, »Fennon Furst, der Aufseher, weiß genau, wer Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig ist –
Maximilian nannte seinen Namen, es war der einzige, den er bei seiner Entführung
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