Der Herr des Traumreichs
Vorschein bringen. Joseph,« – Vorstus wandte sich an den Heiler, der immer noch an Maximilians Seite saß und leicht über die Narbe an dessen Oberarm strich –, »könnt Ihr Maximilian…?«
Er brachte den Satz nicht zu Ende, denn Ravenna unterbrach ihn. Sie hielt Maximilians Hand jetzt mit ihren beiden Händen fest umschlossen. »Nein, er kann Maximilian nicht helfen«, sagte sie ruhig, als Vorstus sie ansah, »denn ich kann ihn nicht mitnehmen. Nur Garth und Maximilian können mich ins Traumreich begleiten. Garth, weil bei ihm die Kräfte weit stärker sind als bei Joseph, und Maximilian, weil er und der Pavillon bereits durch das Mal miteinander verbunden sind.
Garth, du wirst die Narbe allein entfernen müssen. Du mußt Maximilian heilen. Kannst du das?«
Garth blieb der Mund offen stehen. »Ich habe so etwas noch nie getan«, flüsterte er und sah seinen Vater hilfesuchend an.
Joseph erwiderte den Blick seines Sohnes mit Gelassenheit.
Stolz und Vertrauen sprachen aus seinen Augen. »Ich werde dir sagen, was du zu tun hast, Garth. Die Kraft deiner ›Hände‹
ist stark genug. Darüber hinaus brauchst du nur ein paar einfache Verfahren anzuwenden, die ich dir längst beigebracht habe. Maximilian…« Er sah den Prinzen an. »Wollt Ihr Euch Garth anvertrauen?«
»Ja«, flüsterte Maximilian kaum hörbar. »Ja. Er glaubte an das Licht, als ich nur Finsternis sah, und ich folgte ihm. Nun werde ich ihm wieder folgen.«
Von Zeichen und Erinnerungen
Ravenna hatte Garth schon einmal mit in die Nebelwelt des Traumreichs genommen, doch diesmal war alles anders. Sie bat Joseph und Vorstus nur, etwas zurückzutreten. Dann sprach sie ein leises Gebet zum Herrn der Träume, faßte Maximilian und Garth an den Händen und begann zu singen.
Ihr Lied besaß eine Macht, der sich niemand zu entziehen vermochte. Garth konnte das Mädchen nicht ansehen, doch Maximilian wandte die Augen nicht von ihrem Gesicht. Sie sang von bunten Kacheln, von hohen Säulen und riesigen Kuppeln und von Märchenwesen, die das Werk ihrer Hände mit uraltem Zauber schützten. Es war, als sänge sie sich und ihre Begleiter geradewegs in den Pavillon hinein, so kam es Garth vor. Binnen eines Lidschlags stand das Bett, auf dem sie saßen, nicht mehr in einer behaglich eingerichteten Hütte im Wald. Der Raum war – zusammen mit seinem Vater und Vorstus – verschwunden, und feuchte Nebelfäden ringelten sich durch Ravennas Haar.
Nun ließ auch Garth den Blick nicht mehr von der jungen Sumpffrau. Sie allein konnte sie sicher durch die Nebel führen.
Wie bei seinem letzten Ausflug ins Traumreich sah er nur für Momente seltsame Wesen neben und einmal auch unter sich vorüberhuschen.
Ringsum flatterten Schwingen und tappten weiche Pfoten, aber Ravenna lächelte unbeirrt weiter, faßte die Hände von Maximilian und Garth ein wenig fester und fuhr zu singen fort.
Garth war jeden Moment darauf gefaßt, daß der Manteceros –
wie immer mit traurigem Gesicht, aber auch erschrocken darüber, sich so plötzlich dem ungeliebten zweiten Thronanwärter gegenüberzusehen – aus den Nebeln träte. Aber das Fabelwesen ließ sich nicht blicken, und bevor Garth sich in der fremden Welt zurechtfinden konnte, bemerkte er, daß Ravenna zu singen aufgehört und seine Hand losgelassen hatte.
»Sind wir da?« fragte er. Sie nickte still, und er sah sich um.
Wenn sie sich in einem Gebäude befanden, so war es nicht greifbar – ein Traum im Reich der Träume. Ringsum ragten schemenhafte Säulen auf, und über ihren Köpfen ahnte Garth so etwas wie eine Kuppel. Als er unter das Bett schaute, runzelte er verwirrt die Stirn. Gewiß, da war ein Boden, aber er flimmerte, als läge er unter einer dünnen Schicht… fließenden Wassers? Unter seinen Füßen jagten sich grüne und blaue Schatten, und worauf der Pavillon tatsächlich stand, entzog sich seinem neugierigen Blick.
Als Garth sich Ravenna zuwandte, erschrak er. Ihre Augen hatten wieder den natürlichen Grauton angenommen, aber die schwarzen Ringe darunter sprachen von tiefer Erschöpfung, und ihr Mund war nur noch ein schmaler Strich. »Ravenna!«
»Mach dir keine Sorgen, Garth Baxtor«, sagte sie leise. »Ich kann mich ausruhen, während du Maximilian behandelst, und der Weg zurück wird nicht halb so anstrengend.«
Garth klang das zu glatt, er hatte erhebliche Bedenken, aber er schwieg und hielt nur ihren Blick noch einen Moment lang fest. Dann schaute er auf den Prinzen hinab.
Maximilians blaue
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