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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Hitchens
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ihnen gelehrten Grundsätze im öffentlichen Leben und im allgemeinen Bewusstsein durchsetzen. [FUSSNOTE65]

    Daraus geht recht deutlich hervor, dass Einstein auch hier seinen »Glauben« aus der Tradition der Aufklärung bezog. Wer den Mann, der uns eine neue Theorie des Universums geschenkt hat, in ein falsches Licht stellen möchte – aber auch wer schwieg, während seine jüdischen Mitbürger deportiert und vernichtet wurden, oder sich gar daran beteiligte den wird wohl noch der eine oder andere Gewissensbiss plagen.

    Beim sowjetischen und chinesischen Stalinismus mit seinem gewaltigen Personenkult und der Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Menschenleben und den Menschenrechten sind nicht allzu viele Schnittstellen mit vorher existierenden Religionen zu erwarten. Zum einen war die russisch-orthodoxe Kirche eine der Hauptstützen der zaristischen Autokratie gewesen, wobei der Zar als formelles Kirchenoberhaupt galt und durchaus übermenschliche Züge hatte. In China wurden die christlichen Kirchen überwiegend mit den »Konzessionen« der Imperialmächte in Verbindung gebracht, was einer der Hauptgründe für die Revolution war. Damit lassen sich der Mord an Priestern und Nonnen sowie die Entweihung von Kirchen weder erklären noch entschuldigen – ebenso wenig wie die Kirchenverbrennungen und die Ermordung Geistlicher in Spanien im Kampf zwischen der spanischen Republik und dem katholischen Faschismus –, doch die langjährige Assoziation der Religion mit korrupter säkularer Macht hat dazu geführt, dass die meisten Nationen mindestens eine antiklerikale Phase durchlaufen mussten, von Cromwell über Heinrich VIII. bis hin zur Französischen Revolution und zum Risorgimento. Unter den in Russland und China herrschenden Bedingungen des Krieges und des Zusammenbruchs waren diese Interludien besonders brutal. Allerdings sei an dieser Stelle angemerkt, dass man sich in keinem dieser Länder ernsthaft die Wiederherstellung der christlichen Religion in ihren früheren Zustand wünschen sollte: In Russland verteidigte die Kirche die Leibeigenschaft und war für antijüdische Pogrome verantwortlich, und in China arbeiteten Missionare, Händler und Konzessionäre Hand in Hand.
    Lenin und Trotzki waren fraglos überzeugte Atheisten. Sie meinten, religiöse Illusionen könnten durch politische Akte zerstört und das unanständig große Vermögen der Kirche enteignet und verstaatlicht werden. Einige der Bolschewiken betrachteten, wie schon einzelne Jakobiner 1789, die Revolution als eine Art Alternativreligion, die Verbindungen zu Erlösungsmythen und Messianismus aufwies. Für Josef Stalin, der in Georgien ein Priesterseminar besucht hatte, stand letztendlich die Machtfrage im Vordergrund. »Wie viele Divisionen«, lautet eine berühmte und dumme Frage, die er gern stellte, »hat der Papst?« (Die einzig richtige Antwort auf seine sarkastische Fangfrage lautet: »Mehr, als Sie glauben.«) Stalin kopierte sodann pedantisch die päpstliche Angewohnheit, die Wissenschaft dem Dogma anzupassen. So behauptete er steif und fest, der Schamane und Scharlatan Trofim Lyssenko habe den Schlüssel zur Vererbung entdeckt und könne zusätzliche Ernten besonders inspirierter Gemüsesorten garantieren – Millionen Unschuldiger starben infolge dieser »Offenbarung« an bohrenden Bauchschmerzen. Stalin achtete im Laufe seines zunehmend nationalistischen und statischen Regimes stets darauf, zumindest eine Marionettenkirche aufrechtzuerhalten, die mit ihren traditionellen Anreizen seine eigene Wirkung verstärken konnte. Das galt besonders im Zweiten Weltkrieg, als die »Internationale« als russische Nationalhymne aufgegeben und durch eine Art hymnischer Propaganda ersetzt wurde, mit der man 1812 Bonaparte besiegt hatte – und das zu einer Zeit, da »Freiwillige« aus mehreren faschistischen Staaten Europas unter dem heiligen Banner eines Kreuzzugs gegen den »gottlosen« Kommunismus in russisches Territorium einmarschierten. In einer wenig beachteten Passage von Orwells Farm der Tiere kehrt der Rabe Moses, vor der Revolution krächzender Advokat eines Himmels jenseits der Wolken, auf die Farm zurück und hält nach Napoleons Sieg über Snowball vor den leichtgläubigen Tieren eine Predigt. Die Analogie zu Stalin und seiner Manipulation der russisch-orthodoxen Kirche ist auch hier frappant. In Polen bedienten sich die Nachkriegsstalinisten übrigens der gleichen Taktik, indem sie die katholische Organisation Pax Christi zuließen

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