Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
und ihr Sitze im Warschauer Parlament zugestanden, sehr zur Freude katholischer Kommunisten wie Graham Greene. Die antireligiöse Propaganda in der Sowjetunion war auf banalste Weise materialistisch: Schreine für Lenin wurden mit Glasmalereien geschmückt, und im offiziellen Museum des Atheismus wurde ein russischer Astronaut mit den Worten zitiert, er habe im Weltraum jedenfalls keinen Gott gesehen. Dieser Schwachsinn drückte mindestens so viel Verachtung für das gutgläubige Volk aus wie jede Wunder wirkende Ikone. Der große Dichter Czeslaw Milosz formulierte es in seinem antitotalitären Klassiker Verführtes Denken so:
Ich hatte unter meinen Freunden viele Christen – Polen, Franzosen und Spanier –, die auf politischem Gebiet eine strenge stalinistische Orthodoxie vertraten, dabei aber einen inneren Vorbehalt machten; sie glaubten nämlich, Gott werde, wenn die Bevollmächtigten der Geschichte ihre blutigen Urteile vollzogen hätten, schon alles wieder zum Guten lenken. Sie gingen in ihren Überlegungen ziemlich weit: Die geschichtliche Entwicklung, so dachten sie, verläuft nach unumstößlichen Gesetzen, die nach Gottes Willen sind; eines dieser Gesetze ist der Klassenkampf. Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert des siegreichen Kampfes des Proletariats, das bei diesem Kampfe von der kommunistischen Partei angeführt wird; der Führer der kommunistischen Partei ist Stalin, er erfüllt das Gesetz der Geschichte, handelt also nach dem Willen Gottes, und daher ist man ihm Gehorsam schuldig. Die Erneuerung der Menschheit ist nur nach dem in Russland herrschenden Vorbild möglich, darum darf der Christ nicht gegen die eine Idee auftreten – selbst wenn in ihrem Namen Grausamkeiten begangen werden –, die auf dem ganzen Planeten eine neue Menschengattung erschaffen wird. Diese Argumente werden häufig auch öffentlich von jenen Geistlichen vorgebracht, die ein Werkzeug in der Hand der Partei sind. »Christus ist der neue Mensch. Der neue Mensch ist der Sowjetmensch. Folglich ist Christus ein Sowjetmensch!« So hat der rumänische Patriarch Justinian Marina gesagt. [FUSSNOTE66]
Sicher, Männer wie Marina waren abscheulich und erbärmlich. Doch so ein Vorgehen ist im Prinzip nicht schlimmer als die unzähligen Pakte zwischen Kirche und Reich, Kirche und Monarchie, Kirche und Faschismus, Kirche und Staat, die allesamt damit gerechtfertigt wurden, die Gläubigen müssten um der »höheren« Ziele willen zeitliche Allianzen eingehen, dem Kaiser geben, was des Kaisers ist – die Worte Zar und Kaiser haben ja mit dem lateinischen Caesar eine gemeinsame Wurzel –, selbst wenn der gottlos sei.
Ein Politikwissenschaftler oder Anthropologe versteht auf Anhieb, was die Herausgeber und Beiträger des Bandes Ein Gott, der keiner war in solch unsterbliche säkulare Prosa gossen: In Gesellschaften, die, wie sie sehr gut wussten, mit Glaube und Aberglaube durchsetzt waren, negierten die kommunistischen Absolutisten die Religion nicht etwa, sondern sie versuchten, sie zu ersetzen. Die feierliche Erhöhung unfehlbarer Führer, die eine Quelle endlosen Glücks und Segens waren, die permanente Suche nach Häretikern und Schismatikern, die Mumifizierung verstorbener Führer als Ikonen und Reliquien, die grausigen Schauprozesse, die mittels Folter unglaubwürdige Geständnisse entlockten: All das war vor dem Hintergrund der Tradition nur allzu leicht zu durchschauen. Das gilt auch für die Pest- und Hungerzeiten, in denen frenetisch nach allen möglichen Urhebern gesucht wurde, nur nicht nach den wirklichen. (Die große Doris Lessing erzählte mir einmal, sie sei aus der kommunistischen Partei ausgetreten, als sie herausfand, dass Stalins Inquisitoren die Museen der russisch-orthodoxen Kirche und des Zarismus geplündert und die alten Folterinstrumente wieder zum Einsatz gebracht hatten.) Und unschwer zu durchschauen ist es auch, wenn permanent eine strahlende Zukunft heraufbeschworen wird, die alle Verbrechen rechtfertigen und alle kleinlichen Zweifel ausräumen werde. »Extra ecclesiam, nulla salus«, außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. »In der Revolution ist alles erlaubt«, sagte Fidel Castro gern, »außerhalb der Revolution nichts.« In Castros Peripherie entwickelte sich tatsächlich eine bizarre Mutation, die mit dem Oxymoron »Befreiungstheologie« bezeichnet wird; Priester und manchmal auch Bischöfe entwickelten »alternative« Liturgien, in denen die lächerliche Vorstellung verbreitet wird, Jesus von
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