Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
einbringt.
Sodann begegnen vierundsiebzig Stammesälteste, unter ihnen Mose und Aaron, Gott von Angesicht zu Angesicht. Mehrere Kapitel sind nun den minutiösen Vorschriften zu den üppigen und umfangreichen Opfer- und Besänftigungszeremonien gewidmet, die der Herr von seinem neuen Volk erwartet, bis sich alles in Tränen und Chaos auflöst: Als Mose von seiner Unterredung auf dem Berge zurückkehrt, muss er feststellen, dass der Eindruck, den die Begegnung mit Gott hinterlassen hat, zumindest bei Aaron bereits verblasst ist und dass die Kinder Israels aus ihrem Schmuck ein Götzenbild gefertigt haben. Daraufhin zerschmettert er erzürnt die beiden Steintafeln vom Berge Sinai – die demnach von Menschen, und nicht von Gott, gefertigt sein müssen und die später eilends wieder rekonstruiert werden – und befiehlt:
Ein jeder gürte sein Schwert um die Lenden und gehe durch das Lager hin und her von einem Tor zum anderen und erschlage seinen Bruder, Freund und Nächsten.
Die Söhne Levi taten, wie ihnen Mose gesagt hatte; und es fielen an dem Tage vom Volk dreitausend Mann.
Eine kleine Zahl verglichen mit den ägyptischen Neugeborenen, deren Ermordung durch Gott Voraussetzung für diese Geschehnisse war, aber durchaus ein Argument für den »Antitheismus«. Mit diesem Begriff meine ich die Erleichterung darüber, dass keiner der religiösen Mythen wahr ist. Die Bibel gibt zwar einen Freibrief für Menschenhandel, ethnische Säuberungen, Sklaverei, Zwangsehe und willkürliche Massaker, doch wir sind nicht daran gebunden, denn er wurde von primitiven, unkultivierten menschlichen Säugetieren ausgestellt.
Selbstverständlich fand keines der im 2. Buch Mose beschriebenen schaurigen und geistesgestörten Ereignisse je statt. Die israelischen Archäologen zählen zu den professionellsten der Welt, obwohl ihre Forschungen bisweilen von dem Wunsch beseelt waren, zu beweisen, dass der »Bund« Gottes mit Mose auf Fakten basiert. Niemand hat so hart daran gearbeitet wie die Israelis, die jedes Sandkorn Kanaans und der Wüste Sinai einzeln durchgesiebt haben. Der Erste war Jigael Jadin, dessen berühmteste Ausgrabung die von Masada war und der von David Ben Gurion den Auftrag erhalten hatte, die »Besitzurkunde« zu finden, den Nachweis für den Anspruch Israels auf das Heilige Land. Bis vor nicht allzu langer Zeit galten seine so offensichtlich politisch geleiteten Arbeiten zumindest oberflächlich betrachtet als plausibel. Doch dann präsentierten insbesondere Israel Finkelstein vom Archäologischen Institut der Universität Tel Aviv und sein Kollege Neil Asher Silberman erheblich umfangreichere und objektivere Arbeiten. [FUSSNOTE27]
Für beide ist die »hebräische Bibel« oder der Pentateuch ein wundervoller Text und die Geschichte des modernen Israel eine Quelle der Inspiration – in beiden Fällen möchte ich bescheiden meine gegenteilige Ansicht zum Ausdruck bringen. Doch ihre Schlussfolgerung ist endgültig und umso glaubwürdiger, als sie die Beweise über das Eigeninteresse stellen. Es gab keine Flucht aus Ägypten, keine Wanderung durch die Wüste – geschweige denn eine, die vier Jahrzehnte dauerte, wie es im Pentateuch heißt – und auch keine dramatische Inbesitznahme des Heiligen Landes. Das alles wurde kurzerhand und durchaus unbeholfen erheblich später erfunden. In keiner ägyptischen Chronik sind die Ereignisse auch nur in einem Nebensatz erwähnt, und Ägypten war für Kanaan und die nilotische Region in allen relevanten Zeiträumen Besatzungsmacht. Ja, viele Hinweise deuten sogar in entgegengesetzte Richtung: Archäologische Funde bestätigen, dass es bereits seit vielen Tausend Jahren jüdische Siedlungen in Palästina gab, was sich unter anderem daraus schließen lässt, dass in den Abfallhaufen keine Schweineknochen gefunden wurden. Nachgewiesen ist überdies ein, wenngleich eher bescheidenes, »Königreich Davids«, wohingegen alle mosaischen Mythen bedenkenlos verworfen werden können. Diese Schlussfolgerung halte ich nicht, wie manche religiöse Kritiker säuerlich anmerken, für »reduktionistisch«. Aus der Archäologie und den alten Texten lässt sich nicht nur großes Vergnügen, sondern auch großer Nutzen ziehen. Und sie führen uns Stück für Stück näher an die Wahrheit heran. Andererseits werfen sie auch erneut die Frage nach dem Antitheismus auf. In Die Zukunft einer Illusion führte Freud ein recht naheliegendes Argument ins Feld: Die Religion leide unter der irreparablen
Weitere Kostenlose Bücher