Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
den Teufel oder den Dämon kann ich nicht akzeptieren. Am wenigsten aber kann ich seiner Argumentation folgen, deren Armseligkeit jeder Beschreibung spottet: Ausgehend von zwei unzutreffenden Alternativen, die er einander als Antithesen gegenüberstellt, fabriziert er eine primitive unlogische Folgerung: »Nun scheint es mir allerdings klar, dass er weder ein Irrer noch ein Teufel war; das bedeutet dann aber, dass ich anerkennen muss, dass er Gott war und ist.« Allerdings zolle ich Lewis Respekt für seine Ehrlichkeit und seinen Mut. Entweder, so Lewis, sprechen die Evangelien irgendwie die reine Wahrheit, oder die ganze Sache ist im Wesentlichen ein Schwindel und womöglich ein unmoralischer dazu. Nun, es lässt sich zweifelsfrei feststellen – und die Beweise liefern sie selbst –, dass die Evangelien nicht die reine Wahrheit sprechen. Das liegt daran, dass viele der »Aussagen« und Lehren Jesu aus zweiter, dritter oder vierter Hand kommen, was den Wirrwarr und die Widersprüchlichkeit erklärt. Besonders eklatante Beispiele sind, zumindest im Rückblick und gewiss aus Sicht der Gläubigen, Christi bevorstehende Wiederkehr und seine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Gründung einer irdischen Kirche. Die Logia oder Worte Jesu werden von Bischöfen der frühen Kirche, die gern dabei gewesen wären, es aber eben nicht waren, immer wieder als Kommentare aus dritter Hand zitiert. Ich will dafür ein augenfälliges Beispiel nennen. Viele Jahre, nachdem C. S. Lewis das Zeitliche gesegnet hatte, begann ein sehr ernsthafter junger Mann namens Bart Ehrman, seinen eigenen fundamentalistischen Annahmen auf den Grund zu gehen. Er hatte die beiden angesehensten christlich-fundamentalistischen Akademien der USA besucht und galt unter den Gläubigen als einer ihrer Besten. Ehrman sprach fließend Griechisch und Hebräisch – heute hat er als Religionswissenschaftler einen Lehrstuhl inne –, konnte aber seinen Glauben bald nicht mehr mit seinen Forschungen vereinbaren. Überrascht stellte er fest, dass die bekanntesten Geschichten Jesu erheblich später in den Kanon gekritzelt wurden, darunter auch die vielleicht berühmteste.
Es handelt sich um die hoch gelobte Geschichte von der Ehebrecherin (Johannes 8, 3-11). Wer hat nicht schon davon gehört oder darüber gelesen, wie die jüdischen Pharisäer, kunstfertige Rabulisten, die arme Frau vor Jesus zerrten und zu wissen verlangten, ob er mit der mosaischen Todesstrafe der Steinigung einverstanden sei? Wenn nicht, so verstoße er gegen das Recht. Wenn ja, führe er seine eigenen Lehren ad absurdum. Man kann sich gut den blinden Eifer vorstellen, mit dem sie sich auf die Frau stürzen. Und die gelassene Antwort Jesu, nachdem er mit dem Finger etwas auf die Erde geschrieben hat: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.« Dieser Satz hat Eingang in unsere Literatur und unser Bewusstsein gefunden.
Die Episode wird sogar auf Zelluloid gefeiert. In einer Rückblende taucht sie auch in Mel Gibsons Travestie auf, und sie bildet einen wunderbaren Moment in David Leans Dr. Schiwago, wo Lara in ihrer Not zu einem Priester geht und gefragt wird, was Jesus zu der gefallenen Frau gesagt hat. »Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr«, lautet ihre Antwort. »Und, hat sie, Kind?«, fragt der Priester. »Ich weiß es nicht, Vater.« »Niemand weiß das«, erwidert der Priester, wenig hilfreich in dieser Situation.
Das weiß wirklich niemand. Lange bevor ich Ehrman las, hatte ich mir bereits meine eigenen Fragen gestellt. Wenn das Neue Testament Mose bekräftigen soll, warum unterminiert es dann die grausigen Gesetze des Pentateuch? Das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn und die Ermordung von Hexen mögen uns brutal und töricht vorkommen, doch wenn nur der das Recht zur Bestrafung hat, wer nicht gesündigt hat, wie kann dann eine unvollkommene Gesellschaft ihre Straftäter überhaupt strafrechtlich verfolgen? Wir müssten allesamt Heuchler sein. Und welches Recht hatte Jesus, zu »vergeben«? Sicher fühlte sich doch irgendwo in der Stadt eine Ehefrau oder ein Ehemann betrogen und war empört. Steht das Christentum denn für völlige Freizügigkeit? Wenn dem so ist, so wurde es seither jedenfalls aufs Gröbste missverstanden. Und was hat Jesus auf die Erde geschrieben? Auch das weiß niemand. Der Geschichte zufolge bleiben, nachdem die Pharisäer gegangen sind und die Menschenmenge sich, vermutlich peinlich berührt, aufgelöst hat, nur Jesus und die
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