Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
bekommen: »Weil ich es sage«, sondern umgekehrt auch alle Väter und Mütter, die sich diese Worte sagen hören, die sie selbst einst so wenig überzeugend fanden. Trotzdem erfordert das Eingeständnis, dass jede Religion von gewöhnlichen Säugetieren erfunden wurde und nichts Geheimes oder Rätselhaftes an sich hat, einen großen »Sprung« der anderen Art. Hinter dem Vorhang des Zauberers Oz verbirgt sich nichts als Bluff. Kann das wirklich wahr sein? Als jemand, auf den die Schwerkraft von Geschichte und Kultur immer schon stark wirkte, stelle ich mir diese Frage oft. War denn alles umsonst: die enorme Mühsal der Theologen und Gelehrten, die großen Anstrengungen der Maler, Architekten und Musiker, etwas Bleibendes und Wunderbares zu schaffen, das von Gottes Herrlichkeit zeugt?
Nicht im Geringsten. Mir ist es völlig gleich, ob Homer eine Person war oder viele, ob Shakespeare ein heimlicher Katholik oder ein verkappter Agnostiker war. Meine Welt würde nicht zusammenstürzen, wenn sich herausstellen sollte, dass der großartigste Schriftsteller, der je über die Liebe, das Tragische, das Komische und die Moral geschrieben hat, doch der Earl of Oxford war – wobei ich schon darauf bestehen möchte, dass es ein Autor war, und es mich betrüben würde, wenn Bacon derjenige welcher wäre. Shakespeare hat größeres moralisches Gewicht als der Talmud, der Koran oder jeder andere Text, der über die schrecklichen Scharmützel zwischen irgendwelchen eisenzeitlichen Sippen berichtet. Doch aus dem Studium der Religion lässt sich eine Menge Positives herausziehen, und häufig haben wir es mit herausragenden Schriftstellern und Denkern zu tun, die uns gewiss intellektuell, manchmal sogar moralisch überlegen sind. Viele entlarvten die Götzenverehrung und das Heidentum ihrer Zeit und riskierten in der Auseinandersetzung mit ihren Glaubensbrüdern sogar den Märtyrertod. Nun aber haben wir einen Moment in der Geschichte erreicht, da sogar ein Pygmäe wie ich – nicht dass es mein Verdienst wäre – ob seines Wissensstandes in der Lage ist zu erkennen, dass es höchste Zeit ist, den Vorhang endgültig zu zerreißen. Literaturwissenschaften, Archäologie, Physik und Molekularbiologie – sie alle haben nicht nur nachgewiesen, dass religiöse Mythen falsch und menschgemacht sind, sondern sie bieten uns auch bessere und fundiertere Erklärungen der Welt. Den Verlust des Glaubens kompensieren die neuen und trefflicheren Wunder, die noch vor uns liegen, und die Werke Homers, Shakespeares, Miltons, Tolstois oder Prousts, allesamt von Menschen gefertigt (auch wenn das, wie im Falle Mozarts, manchmal schwer zu glauben ist). Als jemand, der nicht ohne Schmerzen in seinem eigenen säkularen Glauben erschüttert wurde und ihn schließlich abgelegt hat, kann ich das guten Gewissens behaupten.
Als Marxist waren meine Ansichten keine Glaubenssache für mich, doch ich dachte schon, dass eine Art einheitlicher Feldtheorie entdeckt worden sein könnte. Der historische und dialektische Materialismus hatte konzeptionell nichts Absolutes oder Übernatürliches, barg allerdings mit seiner Zielgerichtetheit ein messianisches Element in sich und hatte ohne Zweifel seine Märtyrer, Heiligen und Prinzipienreiter, nach einer Weile auch seine rivalisierenden, sich gegenseitig exkommunizierenden Päpste. Zudem gab es Schismen, Inquisition und Hexenjagd. Ich war Mitglied einer abweichenden Schule, die Rosa Luxemburg und Leo Trotzki bewunderte, und ich kann klar sagen, dass auch wir unsere Propheten hatten. Rosa Luxemburg, die so eindrucksvoll vor den Folgen des Ersten Weltkriegs gewarnt hatte, galt schon fast als Verkörperung Kassandras und Jeremias, und Isaac Deutscher nannte die Einzelbände seiner großen dreibändigen Leo-Trotzki-Biografie gar Der bewaffnete Prophet, Der unbewaffnete Prophet und Der verstoßene Prophet. Als junger Mann hatte Deutscher eine Ausbildung zum Rabbiner gemacht und hätte einen brillanten Talmudisten abgegeben – ebenso wie Trotzki. Das damals noch unentdeckte gnostische Judasevangelium vorausnehmend, sagte Trotzki zu Stalins Übernahme der bolschewistischen Partei:
Von den zwölf Aposteln erwies sich nur Judas als Verräter. Aber wenn dieser die Macht erlangt hätte, würde er die anderen elf Apostel als Verräter hingestellt haben und auch alle die geringeren Jünger, deren Zahl Lukas mit siebzig angibt.
Dem sei hier Deutschers nüchterner Bericht über die Geschehnisse angefügt, als die
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