Der Herr vom Rabengipfel
müßt Ihr wissen . . .«
»Ein lächerlicher Kraftprotz«, meinte Ferlain abfällig, nahm einen tiefen Schluck und erlitt einen Hustenanfall.
»Ja, das ist er«, pflichtete Helga ihr bei und wandte sich an Laren. »Du trägst also Merriks Kind. Allem Anschein nach bist du fruchtbar wie deine bedauernswerte Mutter. Schade, daß sie so kurz nach Tabys Geburt sterben mußte.«
Das Gesicht ihrer Mutter hatte Laren vergessen. Seltsamerweise erinnerte sie sich aber an ihre Lieder. Sie hatte gerne mit fester, lauter Stimme gesungen — aber ziemlich falsch. Hallad hatte sie erwürgt, und alle hatten die Würgemale an ihrem Hals gesehen. Laren wechselte das Thema: »Onkel Rollo ist davon überzeugt, daß seine Vettern von den Orkney-Inseln für unsere Entführung verantwortlich sind. Was meinst du dazu, Helga?«
»Ich meine«, antwortete Helga langsam, nippte am Wein und fixierte Merrik, »wer immer es getan hat, war im Grunde genommen barmherzig. Du bist immerhin noch am Leben, Laren.«
»Ja. Ich habe mich oft gefragt, warum man Taby und mich nicht getötet hat. Einen Akt der Barmherzigkeit kann ich darin jedoch beileibe nicht sehen. Meiner Meinung nach hatte der oder die Betreffende Taby und mir vielmehr einen langsamen und qualvollen Tod zugedacht; der Grund dafür ist mir allerdings rätselhaft.«
Ferlain bemerkte: »Ich glaubte immer, dein Vater habe dich und Taby weggeholt. Er wußte, daß ihn hier der Galgen erwartete, nachdem er deine Mutter ermordet hatte, deshalb versteckte er sich, bis er dich und Taby entführen konnte.«
»Unser Vater«, verbesserte Laren. »Nein, Hallad hat uns nicht entführt. Ich begreife nicht, wie du so etwas denken und aussprechen kannst.«
»Was wohl aus ihm geworden sein mag?« fragte Helga sinnend. »Er war nie ein großer Krieger wie Onkel Rollo, aber er war ein feiner Mann und ein guter Vater, bevor er deine Mutter heiratete. Zweifellos wurde er von Wegelagerern erschlagen. Doch genug davon. Das ist lange her. Du bist wieder zu Hause und hast den Mann mitgebracht, den Rollo nun auf die lange Liste der Thronfolger setzte. Was wohl der Frankenkönig Karl zu Rollos selbstherrlichen Beschlüssen sagen wird? Ein völlig Fremder, ein namenloser Normanne, wird zum möglichen Herrscher des Herzogtums ernannt.«
»Ich werde den Lehnseid ablegen«, sagte Merrik. »Und der König wird unser Bündnis segnen, zweifelt nicht daran. Doch bis dahin ist noch Zeit.« Er rieb sich die Hände, in seinen Augen leuchtete Genugtuung und unverhohlene Gier, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.
Helga sagte gedehnt, ohne die Augen von seinem Gesicht zu wenden: »Ferlain und ich lassen dich jetzt allein, Laren. Wir werden gemeinsam zu Abend speisen, wenn du nicht wieder erbrichst.«
Laren sah ihren beiden Halbschwestern nach, wie sie das Schlafgemach verließen. Sie lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. »Du warst sehr überzeugend, Merrik.«
»Ja«, sagte er und lachte in sich hinein. »Helga hält sich für unwiderstehlich, und ich zeigte ihr nicht nur mein Wohlgefallen, sondern auch meine grenzenlose Habgier. Es scheint spannend zu werden.«
»Helga ist klug und tückisch, vergiß das nicht. Sei auf der Hut, Liebster.«
Nach dem Festmahl, das sich weit über die dunkle Stunde der Mitternacht hinauszog, verließ Merrik die Burg, da ihm eine Botschaft von Oleg überbracht worden war, die ihm ein kleiner Junge zugeflüstert hatte. Er trat aus einem Torbogen und rief verhalten: »Oleg, ich bin es, Merrik. Was gibt's?«
Keine Antwort — nichts. Aus der Ferne hörte er das leise Reden der Wachen und hörte das Klappern der Würfel, mit denen sie sich die Zeit vertrieben. Doch am vereinbarten Treffpunkt erschien niemand. Er lächelte in die Dunkelheit hinein und wartete gelassen. Allem Anschein nach war er ein wenig angetrunken. Er pfiff ein Liedchen vor sich hin, wie ein Mann, den keine Sorgen drückten — ein Mann, den die Götter liebten.
Als der Überfall kam, ließ sich Merrik blitzschnell zu Boden fallen, rollte seitwärts und kam elastisch wieder auf die Füße.
Es waren zwei, in Bärenfelle gehüllte, große Kerle. Ihre Gesichter waren mit dichten Bärten bewachsen, und schwere Silberbänder umfingen ihre Oberarme. Im schwachen Schein einer Fackel und der Mondsichel am Himmel sah er die Mordlust in ihren Augen.
Sie waren mit gebogenen Messern bewaffnet, wie sie Merrik in Kiew bei Arabern gesehen hatte, scharfe Waffen, deren Schneiden gefährlich blitzten.
Er zog seinen
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