Der Herr vom Rabengipfel
Männer?«
»Ja, aber es war nur ein Traum, Taby.«
»Welche bösen Männer?« fragte Merrik.
»Ein Alptraum, der mich manchmal quält, wenn ich erschöpft bin. Es tut mir leid, daß ich dich geweckt habe. Ich habe nur schlecht geträumt, Merrik.«
»Nun gut«, sagte er im Aufstehen und verließ das Zelt.
Sie hörte, wie Merrik draußen die Männer mit lauter Stimme weckte, die daraufhin brummend und gähnend aufwachten. Laren drückte Taby an sich. »Du darfst Merrik nichts von früher erzählen. Du erinnerst dich ohnehin nicht mehr gut daran. Er würde es nicht verstehen. Es ist so lange her.«
»Warum hast du dann immer noch schlechte Träume?«
Kinder trafen immer den Kern einer Sache, dachte sie und küßte seine Wange. »Es war schlimm«, sagte sie aufrichtig. »Sehr schlimm. Aber jetzt sind wir in Sicherheit.«
»Merrik wird für uns sorgen.«
Die Zuversicht in seiner Stimme, das blinde Vertrauen des Kindes gefielen ihr nicht. Und es behagte ihr auch nicht, auf einen Mann, noch dazu auf einen Wikinger angewiesen zu sein, dessen Volk zu den grausamsten und kaltblütigsten Menschen dieser Erde zählte. Nein, es gefiel ihr ganz und gar nicht, diesem Mann ausgeliefert zu sein. In den letzten zwei Jahren hatte sie erfahren, wie gemein und brutal die Menschen waren, daß man ihnen nicht trauen durfte, und daß sie gewissenlos und kaltblütig an sich rissen, was sie haben wollten. Vertrauen konnte einem Menschen das Leben kosten. Sie dachte an Thrascos Peitschenhiebe, an denen sie beinahe zugrunde gegangen wäre. Unwillkürlich bewegte sie die Schultern. Die Wunden waren fast verheilt, sie spürte nur noch ein leises Ziehen und Kribbeln im Rücken.
Zu Taby gewandt sagte sie: »Ich will nicht, daß er für uns sorgt.« Ihre Stimme klang so schroff, daß Taby zurückwich. »Ruhig, Liebling. Es ist nicht Merriks Pflicht, für uns zu sorgen. Männer sorgen für ihre Blutsverwandten. Er ist nur freundlich zu uns. Später werde ich mich um uns beide kümmern. Es ist noch ein weiter Weg, aber vielleicht werden wir bald heimkehren.«
Ob er ihr glaubte? Wie konnte sie heimkehren, wenn sie nicht einmal wußte, wer ihr und Taby in der Heimat nach dem Leben trachtete?
Unter lautem Jubelgeschrei und ebenso lauten Dankesgebeten zu Thor ließen die Männer sechs Tage später das Boot in der Bucht von Riga zu Wasser. Ein gewaltiges Unwetter hatte sie aufgehalten und die letzten Kraftreserven der Männer ausgelaugt. Doch nach zwei Tagen legte sich der Sturm, es hörte auf zu regnen, und die Männer setzten ihren beschwerlichen Marsch fort. Als das Langboot in das klare, blaue Meerwasser glitt, seufzten alle erleichtert auf.
Sie waren nicht überfallen worden; Thor hatte ihnen einen sicheren Landtransport gewährt; sie hatten viel Silber angehäuft, und alle waren dankbar. Laren nahm sich vor, am Abend, nachdem das Nachtlager aufgeschlagen war, ein Festmahl zu kochen.
Ihr Rücken war jetzt ganz verheilt, aber sie ermüdete noch rasch und ärgerte sich, daß ihr Körper noch schonungsbedürftig war. Tabys Wangen rundeten sich, seine Augen glänzten. Und der Kleine konnte wieder lachen. Als die Männer ihren geglückten Landtransport bejubelten, hatte Merrik ihn hochgehoben, über seinen Kopf geschwungen, und Taby hatte vergnügt gejauchzt. Laren rührte das fröhliche Lachen ihres kleinen Bruders.
Die Männer brachten ein Reh. Sie schnitt das Fleisch in dicke Scheiben, würzte diese mit Wacholderbeeren und wildem Majoran, wickelte sie in gefettete Ahornblätter und schmorte sie über dem Feuer.
Nach dem Mahl riefen die gesättigten Männer nach Deglin, er solle die Geschichte von Grunlige dem Dänen weiter erzählen.
Doch Deglin schmollte. Merrik hatte ihn wenige Stunden zuvor angewiesen, die mitgebrachten Felle zu säubern und vor Nässe geschützt im Stauraum des Bootes aufzuschichten. Deglin, der die Arbeit unter seiner Würde fand, murrte unentwegt und ging den Männern damit gehörig auf die Nerven.
Jetzt weigerte sich der Skalde auch noch, die Männer zu unterhalten. Sein genialer Geist sei es, der ihn beflügle, Geschichten zu erzählen. Nun sei er überanstrengt, da er gezwungen war, den ganzen Tag niedrige Arbeiten zu verrichten; seine Talente seien verhöhnt worden. Ein Skalde verdiene Respekt und Achtung und dürfe nicht zu Sklavenarbeit herangezogen werden. Dabei blickte er finster zu Laren hinüber, die mit dem Abwaschen von Schalen und Schüsseln beschäftigt war. Sie sei die Sklavin, klagte er weiter,
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