Der Herzog und seine geliebte Feindin
vor einem Mann blamieren, den sie nie wieder sehen würde. Sie faltete ihre Hände im Schoß und wartete. Wenn er ihr mit seinem Schweigen Unbehagen bereiteten konnte, dann konnte sie das umgekehrt auch.
Und in der Tat, er sprach zuerst.
„Ist es, weil ich gerade erst in der Stadt angekommen bin und Sie nicht wollen, dass einer Ihrer besten Freunde der Sache beschuldigt wird?“
Sie hielt den Mund.
„Weil ich aussehe wie ein notorischer Unruhestifter?“ In seiner Stimme schwang leise Selbstironie mit. Er sah nicht so aus – und klang auch nicht so. Seine Stimme war glatt und geschmeidig, er zog die Silben in die Länge, wie es sich für das Englisch des Königs gehörte. Er hatte ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht und eine dazu passende Miene, die sagte, dass er ihretwegen mitspielte.
„Oder haben Sie etwa Geschichten über meine radikalen Neigungen gehört?“
Es gab keine solchen Geschichten. Sein Ruf war der eines Staatsmannes, eines Mannes, der einen scharfen Verstand besaß und seine Worte mit Bedacht wählte.
„Warum sind Sie hier?“, fragte Minnie stattdessen. „Ich habe gehört, was man sich erzählt, aber ein Mann in Ihrer Stellung, der mit dem Gedanken spielt, in die Industrie von Leicester zu investieren, würde doch einen Mittelsmann schicken, statt selbst zu kommen und alle schier zu überwältigen.“
„Ich habe Freunde in der Nähe.“
„Wenn es so gute Freunde wären, einen Besuch zu rechtfertigen, dann würden Sie doch wohl bei ihnen unterkommen, oder?“
Er zuckte die Achseln. „Ich hasse es, anderen zur Last zu fallen.“
„Sie sind Herzog. Sie fallen anderen ständig zur Last.“
Er verzog das Gesicht, wirkte leicht verlegen. „Das, Miss Pursling, ist genau der Grund, warum ich es hasse. Haben Sie irgendwelche Beweise, auf denen Ihre Behauptungen fußen?“
Sie nahm den Zettel. „Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, so gibt es zwei Absätze auf diesem Zettel, die mich davon überzeugen, dass Sie das geschrieben haben.“
„Oh, bitte.“ Er öffnete auffordernd seine Hand. „Lesen Sie sie vor und entlarven Sie mich.“
Minnie nahm ihre Brille aus der Tasche und fand die richtige Stelle. „Was tun die hohen Herren schon, um den Löwenanteil des Gewinns für sich zu beanspruchen? Sie kontrollieren. Sie besitzen. Und dafür – für etwas, wozu kein eigener Gedanke nötig ist, keine Anstrengung – erhalten sie Summen, die so ungeheuerlich sind, dass sie keinen Finger krumm machen müssen, um sich anzukleiden. Statt mit vierzehn arbeiten gehen zu müssen, können ihre Töchter tun, wozu sie gerade Lust haben, und ihre Söhne müssen sich lediglich um das Maß ihrer Verderbtheit Gedanken machen.“
Keine wie auch immer geartete Reaktion des Herzogs. Er saß einfach in seinem Stuhl und schaute sie mit seinen eisblauen Augen an, klopfte mit seinen Fingern leicht gegen die Lehne. „Denken Sie, ein Herzog habe das geschrieben?“, fragte er schließlich leise belustigt.
„Es war kein Arbeiter.“
„Sie wären erstaunt, wie belesen viele …“
„Ich bin im Arbeitergesundheitsverein aktiv“, unterbrach ihn Minnie. „Ich unterschätze sie nicht. Es gibt da jemanden, der ein Gedächtnis wie ein Lexikon hat, der in der Nacht den neuen Fortsetzungsroman von Dickens liest und den anderen tags darauf auswendig nacherzählt. Es ist aber nicht nur der erste Absatz, der Sie verrät. Es ist der erste in Zusammenhang mit dem zweiten.“
„Oh“, sagte er, immer noch lächelnd. „Es gibt noch einen zweiten wesentlich belastenderen Absatz. Allerdings hat der gesamte Text auf dem Flugblatt ja auch nur zwei Absätze. Daher lesen Sie doch bitte unbedingt weiter.“
„Das kann ich nicht.“ Minnie legte das Blatt Papier hin und nahm ihre Brille ab. „Der zweite Paragraph, Euer Gnaden, ist der, den Sie versäumt haben zu schreiben. Sie haben über alles geschrieben, was die Herren nicht getan haben. Aber Sie haben mit keiner Silbe erwähnt, was die Arbeiter getan haben. Ein Arbeiter hätte sich darauf konzentriert, wie er seinen Tag verbringt – was er tut, wem es nützt – nicht wie ihn jemand anderes verbringt. Dies hier wurde von jemandem verfasst, der – unabhängig von seinen Absichten – wie ein Herr denkt.“
Clermont hielt inne, legte den Kopf auf die Seite. Dann streckte er eine Hand aus, nahm das Papier und las es durch. Als er begann, waren seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Er las rasch, überflog mit den Augen die Seite. Aber sie konnte
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