Der Hexenschwur: Roman (German Edition)
Benjamin im Schlaf den Mund verzog, oder es waren seine langen Wimpern, die Schatten auf seine Wangen malten.
Er rieb sich mit der Hand über die Augen. Viele Jahre hatte er nicht an seine Schwester gedacht, doch seit er sich mit der Reise beschäftigte, tauchte sie immer öfter in seinen Gedanken auf. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie vierzehn Jahre alt gewesen. Inzwischen war sie zweiunddreißig. Ob sie noch auf unserem Hof in Hundeshagen lebt?, überlegte er. Womöglich ist sie verheiratet und hat Kinder. Lächelnd verwarf er den Gedanken. Wer will schon ein so kratzbürstiges Weib als Ehefrau haben?, dachte er, da er sich nicht vorstellen konnte, dass aus seiner Schwester ein liebenswertes Wesen geworden war. Johann erinnerte sich gut an ihre hochnäsige Art, die sie bereits als Kind gezeigt hatte. Karoline kam in ihrem Wesen ihrem herrschsüchtigen Vater gleich. Nichts und niemanden achtete sie, selbst ihrer Mutter hatte das Mädchen keine Spur von Herzlichkeit entgegengebracht.
Was wird Karoline sagen, wenn sie erfährt, dass unser Vater versucht hat, meine Frau und meine Tochter zu ertränken?, dachte Johann bitter und schüttelte sich. Er wollte nicht an damals denken. Nicht daran, dass sie wegen der Verleumdung des alten Bonner, Franziska sei eine Hexe, das Eichsfeld hatten verlassen müssen. Nicht daran, dass sie sich fern der Heimat in Sicherheit glaubten, bis der Vater eines Tages in Wellingen aufgetaucht war – blind vor Zorn und Hass. Und Johann wollte sich auch nicht daran erinnern, dass durch seines Vaters Schuld Franziska und Magdalena, die erst wenige Monate alt gewesen war, in den reißenden Fluss gefallen waren und nur ein Wunder verhindert hatte, dass beide ertranken.
Obwohl diese schrecklichen Geschehnisse schon so lange zurücklagen, lief Johann bei der Erinnerung ein kalter Schauer über den Rücken. Aber der alte Bonner war tot und konnte ihnen nicht mehr schaden. Sicher, dachte Johann, wird auch unsere Mutter Annerose den Alten kaum vermissen, denn sie hatte sehr unter ihrem brutalen und streitsüchtigen Mann zu leiden gehabt.
Als Benjamin Johann den Rücken zudrehte, wanderte Johanns Blick zu Franziska, und er betrachtete ihr schlafendes Antlitz. Mit den Jahren durchzogen immer mehr feine graue Haare ihre rötlichen Locken, was ihrer Schönheit keinen Abbruch tat, denn Johann fand seine Frau immer noch anziehend, besonders, wenn sie ihn mit ihren grünen Augen wütend anfunkelte. Dann wollte er sie stets gerne an sich ziehen und sie küssen. Doch Franziskas abwehrende Körperhaltung ließ keine Zärtlichkeit zu.
Johann seufzte verzagt. Zwar gab es auch Augenblicke, in denen er spürte, dass Franziska ihn verstohlen anblickte. Dann hoffte er jedes Mal, sie würde zu ihm kommen und ihre Arme um ihn schlingen. Doch jedes Mal hoffte er vergebens. Aber er hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Obwohl Franziska unter den Anstrengungen der Reise litt, war Johann aufgefallen, dass sie den Kindern gegenüber herzlicher wurde. Auch dass sie mit den Fremden freundlich sprach und Essen mit ihnen teilte, stimmte ihn zuversichtlich, Franziskas Zuneigung wiederzugewinnen. In Hundeshagen werde ich mit ihr über alles sprechen, nahm sich Johann vor, dessen Augen vor Müdigkeit brannten. Er legte das letzte Stück Holz auf die Glut, die sofort wieder aufloderte. Dann streckte er sich neben Benjamin aus. Liebevoll umschloss sein Arm den Jungen, und er schlief ein.
Franziska hatte Johann unter halbgeschlossenen Lidern beobachtet und seine Gedanken erahnt. Sie wusste, dass er sie immer noch liebte, und auch, dass er sich nach Zärtlichkeiten sehnte. Aber sie war innerlich wie erstarrt. Das schlimme Ereignis ließ sie an allem zweifeln, was in ihrem Leben einst wichtig gewesen war, denn die Frage nach dem Warum konnte sie nicht beantworten. Sie hatte nicht gewollt, dass ihr Leben sich so brutal änderte. Doch niemand hatte sie gefragt. Es war plötzlich über sie gekommen. Eines Tages wird er eine Frau finden, die seine Liebe verdient hat, dachte sie und wischte die Tränen fort, die ihr über die Wangen rollten.
• Kapitel 16 •
Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm verzogen und der Regen aufgehört. Trotzdem war der Himmel mit dichten Wolken verhangen, und die Sonne ließ sich nicht blicken. Kälte lag in der Luft.
»Wir müssen weiter«, sagte der fremde Mann, kaum dass es hell wurde. Er weckte die beiden Mädchen, die ihn verschlafen anblinzelten. Nachdem er sie dazu aufgefordert
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