Der Hexer - NR06 - Labyrinth der weinenden Schatten
wissen Sie? Und eins davon ist ganz speziell für Sie reserviert!«
Mit einem triumphierenden Lächeln steckte er die Pfeife wieder in die Tasche, zog fröstelnd die Schultern hoch und warf einen Blick über die Schultern zurück, um nachzusehen, wo Cowley blieb.
Hätte er in diesem Moment das Gesicht des Betrunkenen gesehen, wäre ihm vielleicht das rasche, triumphierende Lächeln aufgefallen, das um seine Lippen spielte.
Aber er hätte es kaum verstanden.
* * *
Rowlf erstarrte. »Was war das?« keuchte er. »Wer hat da –«
Wieder erscholl dieser gräßliche, gellende Schrei von unten, dann hörten wir ein dumpfes Poltern.
Rowlf fuhr herum und stürmte aus dem Raum, und auch ich sprang auf und lief hinter ihm her, so schnell ich konnte.
Das Haus war voller huschender Lichter und Schritte, als wir die Halle erreichten. Die Tür zu Howards Zimmer stand halb offen, und als ich die letzten drei Stufen mit einem Satz überwand, tauchte Charles in der Halle auf, eine qualmende Petroleumlampe schwenkend.
Die Schreie hatten aufgehört, als wir die Haustür erreichten. Ich erkannte Howard, der auf ein Knie herabgesunken war und sich über einen dunklen, unförmigen Körper beugte.
Rowlf und ich erreichten ihn gleichzeitig.
»Was ist passiert?« fragte ich erregt. »Wer hat da geschrien?«
Howard sah auf, gebot mir mit einer hastigen Geste, zurückzubleiben, und deutete mit der anderen Hand auf den verkrümmt daliegenden Körper vor sich. Etwas Graues, Winziges erhob sich von dem dunklen Bündel und flatterte davon.
»Wer ist das?« murmelte ich.
Howard zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Eine Frau. Aber...« Er stockte und sah mich prüfend an. »Kennst du sie?«
Neugierig beugte ich mich vor. Der Anblick war unheimlich. Es war eine Frau, aber selbst das konnte ich nur noch anhand ihrer Kleider und des langen, bis weit über die Schulter fallenden grauweißen Haares erkennen. Ihre gebrochenen Augen standen weit offen und waren trübe geworden, und in ihrem erstarrten Blick hatte sich ein Ausdruck so tiefen Entsetzens festgesetzt, daß ich unwillkürlich ein Stück zurückschrak.
Das Gesicht der Toten war eine Kraterlandschaft aus Runzeln und Falten. Graue, pergamenttrockene Haut spannte sich um einen zahnlosen Mund, der vor Jahrzehnten einmal sehr schön gewesen sein mußte. Häßliche schwarze Flecken verunstalteten das Gesicht, und über der rechten Schläfe war die Haut gerissen und begann sich abzuschälen. Es war alt, dieses Gesicht. Unglaublich alt.
So alt wie ihre Kleider, dachte ich schaudernd. Das einteilige, hoch geschlossene Kleid mußte vor einem Jahrhundert einmal farbenfroh gewesen sein; jetzt war es ein Fetzen, vermodert, grau, dünn und zerschlissen, so daß an unzähligen Stellen der Stoff durchsichtig geworden war. Es sah aus wie von Motten zerfressen.
»Sie... muß mindestens hundert sein«, murmelte Howard verstört. »Aber wie ist das möglich? Wer ist diese Frau, und wie kommt sie hierher?«
»Diese Frage kann ich beantworten«, sagte eine Stimme. Howard, Rowlf und ich fuhren im gleichen Moment herum. Keiner von uns hatte den Fremden bemerkt, der sich uns genähert hatte. Natürlich nicht – wir waren viel zu aufgeregt gewesen, um die leisen Schritte auf dem Kies zu hören.
»Wer sind Sie?« blaffte Rowlf. Drohend richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und trat auf den Fremden zu, aber dieser zeigte sich davon nicht im geringsten beeindruckt. Er hatte es wohl auch nicht nötig – seine Schultern waren fast so breit wie die Rowlfs, und mit seinem schwarzen Zylinder überragte er Howards Leibdiener sogar noch um eine gute Handbreit.
»Wer zum Teufel sind Sie?« schnappte Howard, als der Fremde nicht antwortete. »Und was machen Sie hier?«
»Mein Name ist Ron«, sagte der Mann. Er kam näher und trat in den blassen Lichtschein von Charles’ Lampe, und ich erkannte, daß er den schwarzen Mantel und Hut eines Kutschfahrers trug.
Er deutete auf die Tote. »Ich habe sie gefahren.«
»Sie kennen sie?«
Ron nickte, schüttelte gleich darauf den Kopf und machte eine vage, unbestimmte Geste. »Ja und nein. Ihr Name ist Gloria, und das ist schon so ziemlich alles. Ich... habe sie vom Bahnhof hierher gebracht.«
»Gloria?« Irgendwie kam mir der Name bekannt vor, aber ich wußte nicht, wo ich ihn unterbringen sollte.
Howard sah mich scharf an. »Du kennst diese Frau?«
»Ich... nein«, antwortete ich nach kurzem Überlegen. »Eine Gloria Martin
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