Der Hexer - NR23 - Im Netz der toten Seelen
nicht existierte, besaß keinen Namen.
Er aber besaß einen Namen, der mit flammenden Lettern inmitten der Unendlichkeit geschrieben stand. Er erhob sich wie ein Phönix aus der Asche dessen, was namenlos war und demzufolge nicht existierte, niemals existiert hatte und doch noch immer neue Qual hervorbrachte, bis die Unendlichkeit irgendwann zerbrach und er sein Gefängnis aus gewobener, gestaltlos gewordener Zeit verließ und in eine Welt des Lebens eintrat.
Necron, der ewige Hexenmeister, war zurückgekehrt, um das zu vollenden, was er vor unendlicher Zeit begonnen hatte...
* * *
Ganz langsam drehte ich mich um und konzentrierte mich mit aller Kraft. Die Schattenrisse der Menschen schälten sich undeutlich aus dem Dunkel. Für die Dauer eines Herzschlags riß die schwarzweiße Dämmerung auf und füllte sich mit Farbe. Gleichzeitig ging ein schmerzhafter Stich durch meine Augen. Ich hatte wieder gesehen, und wenn es auch nur für einen Sekundenbruchteil gewesen war, so fachte der Moment doch meine Hoffnung wieder an.
»Was soll das, Carringham«, sagte ich so ruhig wie möglich, konnte aber nicht verhindern, daß meine Stimme ein wenig zitterte. Ich wußte nur zu gut, was kommen würde, aber ich mußte ihn hinhalten. Möglicherweise gelang es mir sogar, die Menschen zu überzeugen, daß ich mit dem Netz nichts zu tun hatte.
»Was das soll?« kreischte er mit überschnappender Stimme. »Schauen Sie sich doch um. Das ist Ihr Werk.«
»Er ist blind«, fuhr Jeff Conroy dazwischen.
Ich konnte die Unsicherheit spüren, die Carringham sekundenlang überfiel. Er verscheuchte sie mit einem wütenden Schnauben, als könne er sich damit selbst Mut machen. »Ich habe vom ersten Tag an gemerkt, daß mit Ihnen etwas nicht stimmt«, stieß er hervor. Seine Stimme war haßerfüllt, aber ich nahm auch den furchtsamen Unterton darin wahr. Carringham hatte Angst, panische Angst. Er wurde mit etwas konfrontiert, das über seinen Verstand ging.
»Das unheimliche Moor, das unseren Wagen verschlang und plötzlich verschwand, das war Ihr Werk«, fuhr er heiser fort. »Dann Ihr Verschwinden und Ihr seltsames Erscheinen in Bredshaws Haus. Cromber ist Ihnen vorhin gefolgt, als Sie aus der Sitzung gestürmt sind. Wir fanden ihn tot in der Färberei. Drei Wachposten sind in der vergangenen Nacht spurlos verschwunden. Und jetzt dieses Netz. Wollen Sie leugnen, daß Sie etwas damit zu tun haben? Ich habe Erkundigungen über Sie eingeholt, Sie... Sie HEXER! So nennt man Sie doch, oder?«
»Mr. Craven ist unschuldig«, fuhr Jeff aufgebracht dazwischen. »Er versucht sogar...«
Ich legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und brachte ihn dadurch zum Verstummen. »Laß sie, Jeff«, sagte ich leise. Die Erinnerung an eine Szene an Bord der LADY OF THE MIST kroch in mir hoch. Damals hatten die Matrosen Roderick Andara lynchen wollen. Ich hatte ihn zusammen mit Captain Bannermann verteidigen wollen und nicht verstanden, wieso er unsere Hilfe abgelehnt hatte. Jetzt befand ich mich an seiner Stelle, und ich reagierte nicht anders. Es war sinnlos, mit den vor Angst halb wahnsinnigen Menschen vernünftig sprechen zu wollen. Sie waren keinem logischen Argument mehr zugänglich.
»Sie haben recht, Mr. Carringham« sagte ich ruhig. »Man nennt mich den Hexer. Aber ich habe mit dem Wesen, das dieses Netz gesponnen hat, nichts zu tun. Ich habe dagegen gekämpft und bei dem Kampf mein Augenlicht eingebüßt. Ich habe auch Cromber nicht getötet. Aber ich kann Ihnen helfen, dieses Grauen zu überwinden.«
Carringhams Antwort bestand aus einem hysterischen Lachen.
»Alles hat erst begonnen, seit Sie hier sind. Und Sie behaupten, nichts damit zu tun zu haben?« Zustimmende Rufe erschollen aus dem Hintergrund. Carringhams Auftreten gab auch seinen Begleitern wieder Mut, und allmählich verloren sie ihre eingeschüchterte Zurückhaltung.
»So einfach kommen Sie nicht davon«, fuhr er fort. »Ich habe diese Spinnenkreatur gesehen, die das Netz gewoben hat, groß wie zwei Häuser, und sie wächst mit jedem weiteren Toten. Sie spürt es, sobald jemand an ihre Fäden kommt, und wer sie einmal berührt, verfängt sich darin, bis diese Bestie da ist. Ich weiß, daß sie Ihnen nicht gehorcht, aber sie ist hinter Ihnen her, und sie wird erst Ruhe geben, wenn sie Sie bekommen hat.«
Ich achtete kaum auf seine letzten Worte. Zu oft hatte ich sie in dieser oder geringfügig anderer Form schon gehört. Ich wußte, was er vorhatte und konnte es bis zu
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