Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London
wegen meines amerikanischen Akzents, den ich eigentlich recht gut zu kaschieren vermochte, auch wenn Sherlock Holmes ihn auf Anhieb identifiziert hatte.
Alle meine vorsichtig formulierten Fragen bezüglich Henry Baskerville blieben ohne das erhoffte Echo. Die Männer, die ich ansprach, wandten sich einfach ab, und auch meine Versuche, sie mir durch ein Bier auf meine Rechnung gewogen zu machen, scheiterten kläglich. Letzten Endes war mir das Glück aber doch hold. Ein Mann in einfacher Kleidung trat an den Tisch, an den ich mich frustriert zurückgezogen hatte, und bedachte mich mit einem freundlichen Gruß.
»Sie interessieren sich für Sir Henry Baskerville, wie ich höre?« sagte er und blickte mich fragend an.
»Ja«, antwortete ich. »Aber wie es scheint, betrachtet man einen von uns hier als reichlich überflüssig – entweder mich oder den guten Sir Henry!«
Der Mann lachte. »Nehmen Sie es den braven Leuten nicht übel. Sie sind nun einmal etwas... sagen wir, zurückhaltend. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
»Aber ganz im Gegenteil! Nehmen Sie doch Platz...« Ich stand sogar auf, um ihm einen Stuhl zurechtzurücken. Dieser Mann war keiner der typischen Einheimischen. Bei den Bewohnern von Devonshire handelte es sich nahezu ausschließlich um einfache Leute: arme Bauern, kleine Handwerker oder Fuhrmänner. Der Mann jedoch, der sich an meinen Tisch gesetzt hatte, war zweifellos jemand mit Bildung und guter Erziehung. Zwar trug er einen grobgewebten, grauen Anzug und einen Strohhut, aber sein glattrasiertes, etwas hohlwangiges Gesicht und seine schlanken Hände deuteten zweifelsfrei darauf hin, daß er ein Mann des Geistes und nicht der groben körperlichen Arbeit war. Er war von dürrer Statur und mochte knapp vierzig Jahre alt sein.
»Darf ich nach dem Grund Ihres Interesses an Baskerville fragen, Mister...«
»Robert Craven«, sagte ich rasch mit neu erwachender Hoffnung. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Oh, verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Natürlich hätte ich mich gleich vorstellen sollen. Mein Name ist Stapleton, Jack Stapleton. Und meine Profession ist die eines Naturforschers. Um auf meine Frage zurückzukommen...«
»Ich bin Schriftsteller«, sagte ich schnell. »Gegenwärtig schreibe ich ein Buch über... den englischen Adel. Die Baskervilles dürfen dabei natürlich nicht fehlen.« Hatte ich halbwegs glaubhaft geklungen? Zu meiner Erleichterung sah es danach aus, denn mein Gegenüber verzog keine Miene.
»Natürlich nicht«, erwiderte Stapleton. »Die Baskervilles mit ihrem jahrhundertealten Fluch... Ein Muß für jedes Buch, das sich mit den englischen Adelsgeschlechtern beschäftigt.«
Ein Fluch? Davon war mir in London nichts bekannt geworden. Irgendwie geriet die Person Sir Henry Baskervilles dadurch in ein ganz anderes, neues Licht. »Können Sie mir etwas über diesen Fluch erzählen, Mr. Stapleton?« fragte ich wißbegierig.
»Sie wissen nicht darüber Bescheid?«
»Doch, doch, natürlich. Mir geht es um die Details, verstehen Sie? Wenn man ein Buch schreibt... Neue Blickwinkel, neue Facetten, das ist es, was die Leser wollen.«
»Nun, dann sind Sie ja genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen«, sagte Stapleton.
»Ach, ja?«
Er nickte. »Der Fluch scheint sich gerade wieder zu erfüllen. Der Tod des unglücklichen Sir Charles...«
Stapleton wurde durch die Schankmaid unterbrochen, die an den Tisch getreten war und ihn fragte, was er trinken wolle. Dies gab mir Gelegenheit, ein paar schnelle Überlegungen anzustellen. Sir Charles, der Onkel Henry Baskervilles, war erst kürzlich gestorben und hatte seinem Neffen den Familienbesitz vererbt – so lauteten meine in London eingeholten Informationen. Und wenn ich Stapleton richtig verstanden hatte, dann wollte er wohl andeuten, daß dieser mysteriöse Fluch die Ursache für sein Ableben gewesen war.
»Wo waren wir?« fragte der Naturforscher, nachdem sich das Mädchen wieder entfernt hatte.
»Sie wollten mir erzählen, wie sich der Familienfluch an Charles Baskerville erfüllt hat«, erinnerte ich ihn.
»Wollte ich das?« Stapleton blinzelte mir zu. »Tatsächlich wissen Sie von dem Fluch fast gar nichts, stimmt’s?«
»Nun«, räumte ich ein, »meine Kenntnisse sind zumindest sehr... lückenhaft. Wenn Sie mir behilflich sein würden, die Lücken auszufüllen...«
»Nur für den Fall, daß Sie mir versprechen, mich in Ihrem Buch ausdrücklich als Quellenangabe zu benennen. Man hat nicht
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