Der Hexer und die Henkerstochter
betend trugen die Benediktiner Virgilius’ Überreste hinüber zur Aufbahrungshalle, die am Rande des Friedhofs stand.
Sie würden keinen allzu großen Sarg benötigen.
Weihrauch waberte wie Nebel empor zur Kirchendecke; der Chor der Gläubigen fiel ein in die klagende Melodie der Orgel, und der ganze Raum schien plötzlich zu beben.
Von seinem Platz aus beobachtete der Hexer die vielen Wallfahrer, die wie blökende Schafe ihre Münder immer wieder auf- und zumachten. Auf und zu, auf und zu … Erstaunlich, dass so viel bäurische Tumbheit, so viel engstirniges, einfaches Leben eine derartige Energie erzeugen konnte. Der Hexer spürte förmlich, wie der Glaube wie eine von Blitzen durchzuckte Gewitterwolke durch die Kirche zog. So viel Kraft, die sich bündelte in schlichtem Backwerk, drei uralten, zerbröckelten Oblaten aus Wasser und Mehl.
Die Heiligen Drei Hostien.
Endlich waren sie in seinem Besitz! Sein Plan war aufgegangen, wenn auch nicht ganz so perfekt wie erwartet. Aber all die Toten auf seinem Weg hin zur Vollendung waren notwendig gewesen. Was zählte, war allein das Ergebnis seiner Mühen.
Während die tiefen Bässe der Orgel durch die Kirche dröhnten, sah der Hexer noch einmal das Feuer brennen, hörte wieder die Schreie und das Betteln der Sterbenden. Erstaunt stellte er fest, dass ihr Tod ihn mit Bedauern erfüllte. Vor allem, da sie teils unter großen Schmerzen gestorben waren. Ihr inständiges Flehen hatte beinahe Mitleid in ihm erregt.
Aber eben nur beinahe.
Was waren schon ein paar Tote angesichts dessen, was er vorhatte! Der Mensch konnte Gott sein, alles, was er dazu brauchte, war der Glaube – und der war hier in Andechs so stark wie vermutlich sonst nur in Altötting, im Petersdom zu Rom oder in Santiago de Compostela. Das Zentrum dieses Glaubens hier auf dem Heiligen Berg waren die Hostien.
Gemeinsam mit den vielen Umstehenden sprach der Hexer das Kyrieeleison und spürte, wie er selbst vom Glauben übermannt wurde.
Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa … Kyrie eleison …
Ja, auch er hatte gesündigt. Tränen traten ihm in die Augen, als er an sie dachte. So lange war sie schon aus seinem Leben verschwunden, und doch glaubte er an sie – und dieser Glaube würde sie wieder lebendig werden lassen.
Wenn da nur nicht diese verfluchten Schongauer Schnüff ler wären!
Der Hexer schloss seine Hand so fest um das Gebetsbuch, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie waren ihm dicht auf den Fersen, er spürte das, und sein Gehilfe versorgte ihn obendrein jeden Tag mit neuen Schreckensmeldungen. Offenbar standen sie kurz davor, das Geheimnis zu lüften! Er hatte seinem Gehilfen einen klaren Auftrag erteilt, doch dieser fand immer neue Ausreden, ihn nicht zu erfüllen. War er zu feige oder einfach zu weichherzig? Nun, er würde sich nach dieser Angelegenheit nach einem verlässlicheren Diener umsehen müssen. Doch bis dahin brauchte er ihn noch.
Nicht mehr lange, er wartete nur noch darauf, dass die Bedingungen günstig waren. Schon einmal war er kurz vor dem Ziel gewesen, aber dann war das Ersehnte nicht eingetreten. Doch er spürte, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Bis dahin musste er sich noch gedulden.
Noch einmal schwang sich die Orgel hinauf in die höchsten Höhen, so laut, dass es fast ohrenbetäubend war. Der schrille Klang hielt an, und für einen kurzen Augenblick glaubte der Hexer, die Schreie der Sterbenden darin zu hören. Sie riefen ihn, sie klagten ihn an, sie deuteten mit spitzen Fingern auf ihn.
Doch dann brach der Klang der Orgel abrupt ab, der Weihrauch verzog sich, und die Gläubigen erhoben sich von ihren Bänken, um in den Gaststuben der umliegenden Dörfer zu fressen, zu saufen und zu huren. Der Glaube verpuffte, und übrig blieb nichts weiter als ein leeres steinernes Gebäude. Nur Stein und Fels und Holz, nichts Göttliches war mehr darin zu spüren.
Der Hexer erhob sich, schlug ein Kreuz und trat mit den übrigen Pilgern und Mönchen durch das schmale Kirchenportal.
Noch immer das Bild der verkohlten Leiche vor Augen, machte sich Simon auf den Weg zurück ins Hospital. Lachend und lärmend kamen ihm die Wallfahrer aus der Kirche entgegen, doch er nahm sie nur als Schemen wahr. Die Erlebnisse der letzten Stunden ließen ihn grübeln. Gern hätte er darüber mit seinem Schwiegervater gesprochen, doch der war seit gestern Mittag verschwunden. Nicht dass sich Simon sonderliche Sorgen machte. Es kam öfter vor, dass der Alte über Nacht
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