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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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trockenen Staub, während er auf den schwer atmenden Novizenmeister starrte.
    Sollte er Laurentius die Medizin verabreichen, damit dieser vor seinem Tod vielleicht noch einmal redete? Oder sollte er die Dosis lieber für den kranken Grafensohn aufheben? Simon dachte an den kleinen Buben, der fast im gleichen Alter war wie einer seiner eigenen Söhne. Er sah ihn vor sich, ein kleines zitterndes Bündel in dem viel zu großen gräflichen Himmelbett, die Wimpern flatternd wie die Flügel eines winzigen Vogels.
    Nach einigen Sekunden hatte Simon seine Entscheidung getroffen. Er klappte den Deckel zu und steckte den Tiegel wieder ein.
    Im Schatten der Stallmauer stand eine Gestalt und beobachtete, wie der Henker davonstapfte.
    Der Mann im Versteck rieb sich nervös über die Knöchel und ließ sie einen nach dem anderen laut knacken. Was er soeben gehört hatte, würde seinen Meister interessieren. Er hatte dessen eigentlichen Auftrag noch immer nicht ausgeführt, etwas in ihm sträubte sich dagegen. Es fühlte sich einfach … falsch an. Nun, vielleicht konnte er ihn mit dieser Nachricht milde stimmen. Doch er wusste, dass der Meister nicht nachgeben würde. Und hatte er nicht immer recht behalten? War er nicht immer um sein Wohlergehen besorgt gewesen? Hatte er ihm nicht versprochen, dass sich alles zum Guten wenden würde?
    Der Mann atmete durch und schlug ein Kreuz. Der Meister hatte ihm erzählt, wie wichtig der Glaube war. Dass der Glaube auch ihn heilen könne. Bald schon wäre es so weit. Noch der eine Auftrag, und sie waren am Ziel.
    Nach dem, was er gerade eben im Hospital belauscht hatte, glaubte er allerdings, dass es noch einen weiteren Auftrag geben würde. Was hatte der knurrige Riese gerade eben noch gesagt?
    Ich meine, dass Laurentius’ Leben keinen Fliegenschiss mehr wert ist …
    Der Mann schüttelte nachdenklich den Kopf, dann schwang er sich über eine niedrige Mauer und war schon bald hinter den Ställen verschwunden.
    Es war Zeit, dem Meister zu berichten.
    Am frühen Abend saß Magdalena auf der Stubenbank im Haus des Schinders und sang ihre Kinder mit monotoner, weicher Stimme in den Schlaf.
    »Pumpernickels Hänsle saß hinterm Ofen und schlief. Da brannten seine Hosn an, potztausend, wie er lief …«
    Vom Heiligen Berg her drang Geschrei und aufgeregtes Rufen herüber, doch weder die Henkerstochter noch die zwei Buben ließen sich davon stören. Die beiden Kleinen lagen wohlig ausgestreckt auf dem Reisig neben dem Ofen und lauschten ihrer Mutter. Der größere Peter hatte zwar noch die Augen auf, doch sein Blick war bereits gläsern; der kleine Paul döste, den Daumen im Mund, an dem er im Traum ausgiebig nuckelte.
    Liebevoll sah die Henkerstochter ihre Buben an. Von was mochten sie wohl träumen? Hoffentlich von etwas Schönem, von blühenden Wiesen, Schmetterlingen, vielleicht von dem wunderlichen Klostergarten, den sie gestern gesehen hatten.
    Vielleicht von ihrem Vater?
    Magdalenas Blick verdüsterte sich, als sie an Simon dachte. Seit gestern hatte sie nur das Notwendigste mit ihm gesprochen. Doch ihm schien das nicht mal aufzufallen! Es war immer das Gleiche – wenn ihr Mann bei seinen Patienten war, war er für sie und die Kinder nicht mehr erreichbar. Dabei verlangte sie gar nicht, dass Simon den ganzen Tag mit ihnen zubrachte, und sie sah auch ein, dass die schwierigen Umstände hier in Andechs ihn über die Maßen forderten. Was ihr fehlte, war wenigstens ein liebevoller Blick, ein kurzes neckisches Wort zu seinen Kindern oder dass er sie einmal kurz in den Arm nahm. Aber Simon war wie in einer anderen Welt, zu der ihr der Schlüssel fehlte.
    Also hatte Magdalena den gestrigen und auch den heutigen Tag allein mit den Buben zugebracht, war mit ihnen durch den Ort gestromert und hatte sie Stöckchen in einen nahen Bach werfen lassen – wobei sie immer darauf geachtet hatte, sich nicht zu weit von anderen Menschen zu entfernen. Die Angst vor dem Hexer und diesem Automaten hielt sie nach wie vor im Griff.
    Die Tür knarrte, und Matthias betrat den Raum. Draußen konnte Magdalena das Quietschen des Schinderkarrens hören, offenbar hatte Michael Graetz von einem der Bauern einen neuen Kadaver bekommen.
    Als der stumme Geselle sie sah, lächelte er und hob schüchtern die Hand zum Gruß. Magdalena lächelte zurück. Sie hatte sich an die Anwesenheit des rotblonden ­Hünen gewöhnt. Mehr noch – auch wenn er nicht sprach, mochte sie es, ihn um sich zu haben. Er war liebevoll zu den

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