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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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später fuhr ein arm­dicker blauer Strahl von der Decke direkt in die Puppe. Virgilius, der noch immer einen Teil des Drahts umklammert hielt, war plötzlich von einer bläulichen Aura umgeben, sie umstrahlte ihn wie ein gigantischer Heiligenschein. Aus Virgilius’ Haaren, aus den Ärmeln, ja sogar aus seinen Ohren züngelten Flammen. Er öffnete den Mund zu einem schrillen, unmenschlichen Schrei, doch gleich einem pfingstlichen Feuer leckten auch dort winzige Flammen hervor.
    Virgilius zuckte und zappelte, er bebte am ganzen Leib, während seine Hand noch immer den Draht hielt. Dann brannte sein ganzer Körper wie eine einzige riesige Fackel.
    Die Wucht der Detonation hatte Jakob Kuisl an den Rand des Turmzimmers geworfen, während um ihn herum alles in Flammen aufzugehen schien. Ein feines Pfeifen ertönte schrill in seinen Ohren, sonst hörte er nichts weiter als das Blut, das durch seinen Kopf rauschte. Er sah, wie der Andechser Abt hustend und mit brennender Kutte auf die Luke zukroch. In einer Ecke gegenüber kauerte Magdalena, die ihren Jungen fest umklammert hielt. Sie hatte die Augen weit geöffnet, den Mund zum Schrei aufgerissen, doch Kuisl vernahm noch immer nichts.
    Er sprang auf, stürzte auf Magdalena zu, packte sie und das Kind und schob die beiden auf die Luke zu. Um sie herum fielen nun die ersten brennenden Balken von der Decke. Kuisl spürte, wie Funken seinen Bart versengten, doch er hielt nicht inne, sondern achtete darauf, dass seine Tochter und sein Enkel wohlbehalten die Stiege erreichten. Erst dann kletterte er selbst hinterher.
    Als der Henker sich ein letztes Mal umwandte, sah er, dass Virgilius noch immer brannte. Wie eine lodernde Vo­gel­scheuche stand er neben seiner geliebten Aurora, eine von Flammen umgebene, verklumpte schwärzliche Gestalt, die mit bleckenden Zähnen auf den von ihm geschaffenen Automaten starrte. Das wächserne Gesicht der Puppe zerlief wie Honig, und dahinter kamen Eisen und Drähte zum Vorschein.
    Auroras tote mechanische Augen glühten, und für einen winzigen Moment schien es Kuisl, dass nicht Virgilius seinen Automaten, sondern der Automat seinen Erschaffer festhielt.
    Dann fielen weitere brennende Balken von der Decke und begruben die beiden unter sich.
    Der Henker hastete die Stufen hinunter, während über ihm das Chaos tobte. Magdalena und Paul waren nur wenige Meter vor ihm. Kuisl hörte, wie der Wind durch den hohlen Turm brauste und das Feuer immer weiter anfachte, eine brüllende Flammenhölle, der sie entkommen mussten. Sie stolperten und taumelten die steilen Stufen hinunter, strauchelten etliche Male und konnten sich erst im letzten Moment wieder am Geländer festhalten.
    Als sie endlich atemlos unten im Kirchenchor angekommen waren, warteten dort bereits Simon und Peter. Kuisl spürte eine unendliche Erleichterung, als er seinen zweiten Enkel und seinen Schwiegersohn unversehrt vor sich sah. Der Andechser Abt stand hustend neben ihnen. Seine Kutte war bis zu den Knien versengt, das Gesicht schwarz von Ruß, doch ansonsten schien er unversehrt.
    »Das … das war die Strafe Gottes«, keuchte Pater Maurus mit leeren Augen. »Wir haben Gott gesehen.«
    »Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir ihn gleich noch mal sehen«, erwiderte Kuisl und schob die anderen Richtung Ausgang. »Dieses Feuer wird noch das ganze Kloster verheeren.«
    Draußen vor der Kirche sahen sie, dass der brennende Turm gleich einer riesigen Fackel die Finsternis erhellte. Glühende Balken und Schindeln fielen auf das darunter­liegende Kirchendach. In kürzester Zeit stand die ganze Kirche in Flammen, und das Feuer drohte auf die benachbarten Klostergebäude überzugreifen.
    Immer mehr Mönche, aber auch Pilger und einfache Dorfbewohner versammelten sich nun auf dem Vorplatz. Fassungslos starrten sie auf das brüllende Flammenmeer, das sich auch von dem allmählich nachlassenden Regen nicht eindämmen ließ.
    »Das ist das Ende des Klosters«, flüsterte der Abt, der neben Jakob Kuisl stand.
    »Oder sein Anfang«, entgegnete der Henker. »Wolltet Ihr nicht ohnehin ein neues, schöneres bauen? Wenn nicht jetzt, wann dann?«
    Plötzlich waren aus der Menge Rufe und Schreien zu hören. Es waren der Graf und seine Soldaten, die die Leute in einzelne Löschkommandos einteilten. Mit Eimern bewaffnet, liefen die Menschen wie aufgeschreckte Ameisen in alle Richtungen davon. Pilger, Einheimische und Benediktiner – alle versuchten sie Seite an Seite, das Feuer unter Kontrolle zu

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