Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
Vom Netzwerk:
frei herum?«
    Sie schlug ein Kreuz, stand von dem Toten auf und straffte sich.
    »Bleib du hier unten mit Peter!«, befahl sie barsch ihrem Mann. »Ich werde jetzt nach oben gehen und mir meinen Sohn zurückholen. Wenn mein Vater und der Abt das nicht schaffen, muss ich es eben alleine tun. Diesen Virgilius soll der Teufel holen!«
    Ohne ein weiteres Wort rannte sie auf den in der Dunkelheit liegenden Kirchenchor zu.
    Es war etwas im Blick des Uhrmachers, was Jakob Kuisl einen Sekundenbruchteil vorher verriet, was Virgilius vorhatte.
    Dieser Augenblick hatte ausgereicht, um nach vorn zum Gerüst zu hechten. Ganz langsam, so als hielte Gott die Zeit an, sah der Henker seinen Enkel nach unten fallen. Kuisl streckte die Hand aus und erwischte den brüllenden Buben gerade noch am Kragen seines Hemds. Ein häss­liches Ratschen ertönte, als das Kleidungsstück einriss, doch der Stoff hielt. Mit zappelnden Armen und Beinen baumelte Paul wie eine Marionette am ausgestreckten Arm seines Großvaters.
    Mit einem lauten Schrei zog Kuisl den Knaben zurück auf das Gerüst, als ihm Virgilius von hinten plötzlich einen Stoß versetzte. Einen unendlich langen Moment schwankte der Henker an der kniehohen Balustrade, während die Stimme des Uhrmachers hinter ihm in einer beinahe unmenschlich hohen Tonlage kreischte: »Das Opfer! Du hast mir mein Opfer genommen! Ich brauche diesen Jungen, damit meine Aurora leben kann!«
    Eine heftige Böe traf den Henker von vorne und half ihm, das Gleichgewicht wiederzufinden. Noch einmal blickte er hinab in den Abgrund, dann warf er sich mit aller Kraft zurück auf die Plattform des Glockenstuhls. Der Bub landete wohlbehalten neben ihm und klammerte sich fest an seinen Großvater.
    »Es ist vorbei, Virgilius!«, rief der Abt gegen den Sturm an. »Gib auf und kehre zurück zu Gott. Noch ist es nicht zu spät!«
    »Niemals!« In den Augen des Uhrmachers war nur noch das Weiß seiner Augäpfel zu sehen. Sie leuchteten geisterhaft in der Dunkelheit, er lachte höhnisch.
    »Gott hat mir meine Liebste genommen, wie kann ich da zu ihm zurückkehren? Er hat mich verhöhnt und fallengelassen!« Ein heftiger Donner dröhnte, doch Virgilius’ Stimme war so laut, dass sie selbst das Krachen übertönte. »Ich kann selber Gott sein, ich brauche ihn nicht! Verstehst du denn nicht, Maurus? Nur der Glaube macht diesen christlichen Moloch so stark! Ich habe den Glauben benutzt, um meine Aurora zurückzuholen!«
    »Nur Gott schafft Leben!«, mahnte der Abt und kam mit erhobenen Händen auf seinen Bruder zu. »Tu Buße, Virgilius. Lass dir von mir die Absolution erteilen.«
    »Ich spucke auf deine Absolution! Ich spucke auf Gott!«
    Virgilius lief hinüber zu seinem Automaten, packte ihn an den steifen Armen und blickte hoch zum dunklen Himmel.
    »Alles, was ich brauche, ist nur ein einziger Blitz!«, schrie er in die Wolken hinein. »Es wird der Tag kommen, an dem wir erkennen, dass auch diese Blitze nichts Gött­liches sind, sondern nur natürliche Phänomene, die wir für unsere Zwecke nutzen können.« Er griff nach dem dicken Draht, der von der Decke hinab zur Bahre lief und sich dort in weitere dünnere Drähte verästelte. Sorgfältig überprüfte Virgilius die Verbindungsstellen. »Es … es muss ein menschlicher Fehler sein, dass der Blitz bislang nicht im Dach eingeschlagen hat«, murmelte er. »Genau, das wird es sein. Wir müssen eben sorgfältiger arbeiten, wenn wir Gott abschaffen wollen. Wie ein Uhrmacher. Wir müssen …«
    Plötzlich waren erneut knarrende Schritte auf den Treppenstufen zu hören. Virgilius drehte sich um und starrte auf die Frauengestalt, die soeben in der Öffnung auftauchte, in der Finsternis jedoch nicht gut zu erkennen war. Ihre Haare waren nass vom Regen, den Kopf hielt sie aufrecht, das Kinn entschlossen nach vorn gestreckt wie eine zornige Rachegöttin. Sie atmete schwer vom Aufstieg auf der steilen Stiege, mit ihren Fingern deutete sie auf den Uhrmacher, der verzückt aufschrie.
    »Aurora, bist … bist du es?«, fragte er zögernd. »Bist du endlich zu mir zurückgekehrt, nach all den Jahren? Aber …« Sein Blick wanderte von der Frauengestalt zum Automaten und wieder zurück zu der Frau in der Öffnung. »Wie … wie ist das möglich? Der Blitz …«
    »Fahr zur Hölle, Virgilius!«, zischte Magdalena.
    In diesem Augenblick ertönte ein so lautes Krachen, dass Jakob Kuisl glaubte, der Turm würde in der Mitte entzweigerissen. Nur einen Sekundenbruchteil

Weitere Kostenlose Bücher