Der Hexer und die Henkerstochter
Blätter und kleine Zweige wehten durch das zerstörte Dach; Säulen, Altäre und Beichtstühle ragten wie schwarze Felsblöcke vom nassen Boden auf. Ein paar der kunstvoll gefertigten Kirchenfenster hatte der Sturm zerstört, so dass die Kirchenbänke mit bunten Splittern bedeckt waren.
In der Mitte der Kirche, umgeben von einer Blutlache, lag eine Gestalt.
Arme und Beine waren seltsam verdreht wie bei einer kaputten Puppe, der Mann stöhnte und zuckte leicht, sonst ging keinerlei Regung von ihm aus. Plötzlich drehte er ganz langsam den Kopf in Magdalenas Richtung, bis die Henkerstochter endlich sein Gesicht erkennen konnte.
Es war Matthias.
Magdalena starrte nach oben, wo ein gähnendes Loch im Dach klaffte; die notdürftig aufgespannten Leintücher waren zerrissen. Der Schindergeselle musste vom Glockenturm direkt durch diese Öffnung gefallen sein. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte.
»Du … du Monster!«, schrie Magdalena und rannte auf Matthias zu. »Was hast du mit meinen Kindern gemacht? Ich habe dir vertraut, ich habe …«
Doch als sie das lächelnde Antlitz des stummen Gesellen sah, stockte sie. Selbst jetzt, da sie wusste, dass Matthias ihre Kinder entführt hatte, sah er freundlich und hilfsbereit aus. Konnte dieser Mann wirklich mit Virgilius unter einer Decke stecken?
Matthias stöhnte wieder, dann streckte er die Hand aus und schien damit über den Steinboden zu wischen. Erst nach einer Weile erkannte Magdalena, dass er etwas auf die schlamm- und blutbespritzte Fläche schrieb. Sie kniete nieder, um es zu entziffern, bevor der Regen die Buchstaben wieder wegwusch.
Es tut mir leid.
»Pah, als wenn das irgendetwas ändert!«, schimpfte Simon, der mittlerweile hinzugetreten war. »Es tut ihm leid! Dieser Sauhund hat uns die ganze Zeit getäuscht und mit Virgilius zusammengearbeitet. Er ist ein Verbrecher und Entführer, vermutlich hat er auch Pater Laurentius auf dem Gewissen! Und auf dich hatte er es auch abgesehen!«
Doch auch Simon konnte nicht verhindern, dass sein eigener Sohn sich zu Matthias niederbeugte und ihm über das blutbespritzte rötliche Haar strich.
»Matthias krank?«, fragte Peter besorgt.
Magdalena nickte. »Dein Matthias ist sehr krank«, sagte sie leise. »Er wird wohl sterben müssen.« Ängstlich blickte sie hinüber zum Chorgerüst, von wo aus die Treppe zum Glockenturm führte. »Aber vielleicht kann er uns vorher noch sagen, was dort oben vor sich geht. Hörst du mich, Matthias?« Sie wandte sich wieder dem schwerverletzten Gesellen zu. »Wer ist dort oben? Wenn du irgendetwas wiedergutmachen willst, dann jetzt!«
Matthias brummte, dann tastete er nach seinem schmutzigen zerrissenen Rock und zog darunter eine Wachstafel und einen Griffel hervor. Umständlich begann er eine Nachricht darauf zu kritzeln.
»Das dauert!«, stöhnte Simon. »In der Zwischenzeit hat Virgilius den Kleinen vielleicht schon umgebracht!«
»Warte!« Magdalena hob beruhigend die Hand, doch auch sie starrte immer wieder nervös durch das Loch im Kirchendach, wo der Turm zu sehen war. »Noch einen Moment! Es könnte wichtig sein.«
Endlich war Matthias mit dem Schreiben fertig. Ächzend reichte er Magdalena die Tafel, und sie begann hastig zu lesen.
Virgilius und der Junge sind im Glockenstuhl. Auch dein Vater und der Abt. Dem Jungen wird kein Leid geschehen. Lass bitte die Buben später nicht schlecht von mir sprechen. Nur Gott kennt die ganze Wahrheit.
Traurig blickte Magdalena auf die wie mit Kinderhand gekritzelten Zeilen.
Nur Gott kennt die ganze Wahrheit …
Als sie wieder zu Matthias hinüberblickte, sah Magdalena, dass sein Kopf zur Seite gekippt war. Die Augen blickten starr nach oben, wo einige grünrote Buchenblätter durch das Loch auf ihn herabsegelten.
»Matthias tot?«, fragte Peter ängstlich.
Magdalena nickte. Sie konnte nicht vermeiden, dass ihr ein paar Tränen aus den Augenwinkeln flossen. »Er … er ist jetzt oben beim lieben Herrgott. Wir werden wohl nie erfahren, warum er mit diesem Verrückten gemeinsame Sache gemacht hat. Doch ganz tief in mir weiß ich, dass er kein schlechter Mensch gewesen ist.«
»Kein schlechter Mensch?« Simon schüttelte empört den Kopf. »Magdalena, er hat unsere Kinder entführt! Er ist ein Mörder und Verbrecher!«
»Wie viele Mörder hat mein Vater hingerichtet, die in einem anderen Leben vielleicht Heilige gewesen wären?«, sagte Magdalena leise. »Und wie viele Schurken laufen in teuren Gewändern
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