Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
Vom Netzwerk:
Medicus wandte den Blick nach oben und sah an einem Seil einen flügellosen grünen Drachen mit langem Schwanz, der sich langsam im Kreis drehte. Die gläsernen Augen des Ungetüms starrten teilnahmslos auf ihn herunter.
    »Mein Gott«, murmelte Simon. »Was ist das hier? Der Eingang zur Hölle?«
    Jemand lachte. »Eher zum Paradies. Die Wissenschaft öffnet demjenigen, der sich nicht vor ihr verschließt, ungeahnte Pforten. Kommt doch ein wenig näher, damit ich endlich sehe, mit wem ich die Ehre habe.«
    Simon tappte im Dämmerlicht einige Schritte weiter, bis er zur Rechten eine menschengroße Gestalt sah. Erfreut, endlich den merkwürdigen Bewohner des Hauses gefunden zu haben, wandte er sich ihm zu und streckte die Hand aus.
    »Ich muss sagen, Ihr habt mir einen gehörigen Schrecken …«, begann Simon. Doch plötzlich stockte er, sein Herz machte einen Sprung.
    Die Gestalt vor ihm war eine Frau. Sie trug ein rotes Ballkleid und hatte die blonden Haare zu einem Nest am Hinterkopf aufgesteckt, wie es vor einigen Jahrzehnten bei Hofe noch Mode gewesen war. Mit vollen roten Lippen lächelte sie Simon an, aber ihr Gesicht war so blass wie das einer Leiche, alles Leben schien daraus verschwunden. Plötzlich klappte ihr Mund auf, und von irgendwo im Inneren ihres Leibes ertönte eine leise, blechern klingende Melodie.
    Simon brauchte eine Weile, bis er erkannte, dass es ein Glockenspiel war. Klingelnd und bimmelnd schlugen unsichtbare Klöppel die Töne eines alten Liebeslieds.
    »Das … das … ist …«, stammelte er.
    »Ein Automat, ich weiß. Es tut mir leid, dass ich nicht mit einer leibhaftigen weiblichen Gesellschaft dienen kann. Dafür wird sich Aurora auch niemals in ein zänkisches altes Weibsbild verwandeln. Sie bleibt immer jung und schön.«
    Hinter der lebensgroßen Puppe trat nun ein kleines Männlein hervor. Simon erschrak ein weiteres Mal, als er in ihm den verkrüppelten Mönch erkannte, der mit Frater Johannes vor wenigen Stunden Streit gehabt hatte. Simon grübelte, wie der Mönch geheißen hatte. Der Abt hatte im Klosterrat ­seinen Namen genannt. Wie war er noch mal gewesen? Frater …?
    »Frater Virgilius«, sagte das bucklige Männlein und strec k­te seine rechte Hand aus, während es sich mit der anderen auf den elfenbeinverzierten Gehstock mit Silberknauf stützte. Ein scheues Lächeln huschte über sein Gesicht . »Sind wir uns nicht schon begegnet?«
    »Heute Vormittag vor dem Haus des Apothekers«, murmelte Simon. »Ich war dort, um Kräuter für meine Frau zu besorgen. Anisum, Artemisia und Gänsefingerkraut gegen ihr Leibgrimmen.«
    Eine Sorgenfalte tauchte auf dem kleinen verhutzelten Gesicht des Mönchs auf. Er mochte bereits über fünfzig sein, doch alles an ihm wirkte so zierlich wie bei einem Kind. »Ich erinnere mich«, sagte er mit tonloser Stimme. »Ich hoffe, Frater Johannes konnte Eurer Frau helfen. Er ist ohne Zweifel ein guter Apotheker, nur manchmal etwas … unbeherrscht.« Wieder erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Aber reden wir über Erfreulicheres. Ihr sprecht Latein? Seid Ihr etwa ein Freund der Wissenschaften?«
    Simon stellte sich mit kurzen Worten vor, dann deutete er auf die merkwürdigen Apparate um ihn herum. »Dieser Raum ist das Faszinierendste, was ich je gesehen habe. Was für einen Beruf übt Ihr aus, wenn ich fragen darf?«
    »Ich bin Uhrmacher«, erwiderte Frater Virgilius. »Das Kloster gibt mir die Möglichkeit, meiner Profession nachzugehen und gleichzeitig ein wenig, äh, zu … experi­mentieren.« Er zwinkerte Simon zu. »Ihr wurdet vorher unfreiwillig Zeuge einer Wiederholung von Guerickes ­Kugelexperiment.«
    »Kugelexperiment?« Simon sah den kleinen Mönch ratlos an. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
    Beiläufig deutete Frater Virgilius auf eine kindskopfgroße kupferne Kugel, die sich auf einem verkohlten Tisch hinter ihm befand und Spuren von Ruß aufwies. »Die faszinierende Kraft des Vakuums«, fing er zu erklären an. »Der Erfinder Otto von Guericke setzte einst auf dem ­Regensburger Reichstag zwei Kugelhälften aufeinander und pumpte die Luft heraus, so dass sich ein Vakuum bildete. Sechzehn Pferde waren nicht imstande, die Hälften wieder auseinanderzuziehen. Nicht einmal mit der zerstörerischen Kraft von Schwarzpulver ist das möglich.« Er seufzte. » Quod erat demonstrandum . Mein hasenfüßiger Gehilfe ist vor dem Krach bis hinauf in die Dachkammer geflohen. Vitalis? Viiitaaalis!« Ungeduldig hämmerte

Weitere Kostenlose Bücher