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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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der kleine Mönch mit seinem Krückstock auf den Boden, bis aus dem Nebenraum ein scheuer junger Mann auftauchte. Er mochte noch keine achtzehn Jahre alt sein und war von so graziler Statur, dass ihn Simon im ersten Moment für ein Mädchen hielt.
    »Das ist Vitalis, ein Novize des Klosters«, stellte ihn Frater Virgilius kurz angebunden vor. »Er macht zwar selten den Mund auf, dafür sind seine Finger so feingliedrig, dass sie auch noch das kleinste Zahnrad in ein Uhrwerk setzen können. Nicht wahr, Vitalis?«
    Schüchtern und mit niedergeschlagenen Augen verbeugte sich der Novize. »Ich tue mein Bestes«, flüsterte er. »Habt Ihr einen Wunsch, Meister?«
    »Wenn du schon nicht Zeuge des Experiments warst, dann mach dich wenigstens hinterher nützlich«, knurrte Virgilius. »Ich fürchte, wir werden einen neuen Tisch brauchen. Schau doch gleich zu Bruder Martin, ob er in seiner Schreinerei noch einen hat.«
    »Sehr wohl, Meister.«
    Mit einer letzten Verbeugung begab sich Vitalis nach draußen, während der Mönch sich erneut an Simon wandte. »Und was sagt Ihr nun zu meiner Aurora?« Er deutete auf den Aut o­maten. »Ist sie nicht bildhübsch?«
    Simon musterte verstohlen die Puppe, die noch immer unbeweglich lächelnd an seiner Seite stand. Jetzt erst erkannte er, dass sich unter dem Kleid anstelle der Füße kleine Laufräder befanden. »Fürwahr, ein … ein Wunderwerk der Technik«, murmelte er. »Wenn ich auch gestehe, dass mir die echten Menschen lieber sind.«
    »Pah, Mumpitz! Glaubt mir, es wird der Tag kommen, an dem wir echte Menschen nicht mehr von Automaten unterscheiden können.« Frater Virgilius humpelte um die Puppe herum und drehte an irgendwelchen Schrauben an Auroras Rücken, bis erneut die leise Melodie ertönte. Der Automat öffnete den Mund und rollte gleichzeitig wie an unsichtbaren Fäden gezogen durch den Raum. Im Dunkel des Zimmers sah er tatsächlich aus wie eine vornehme Dame auf einer Pariser Ballnacht.
    »Glockenspiel, Mund und Räder werden durch Uhrfedern und Walzen angetrieben«, erklärte der Mönch stolz. »Zurzeit arbeite ich daran, dass Aurora auch ihre Hände bewegen und zu einer Bourrée tanzen kann. Wer weiß, vielleicht wird sie ja einmal Briefe schreiben oder Spinett spielen können?«
    »Wer weiß?«, flüsterte Simon. Der Automat wurde ihm immer unheimlicher. Es war, als sähe er einem Geist zu, der, von Rachsucht getrieben, schwerelos durch den dunklen Raum glitt.
    »Und das Kloster?«, fragte er zaghaft. »Was sagt die Kirche zu Euren Experimenten?«
    Frater Virgilius zuckte mit den Schultern. »Abt Maurus ist ein aufgeklärter Mann. Er kann gut zwischen Glauben und Wissenschaft unterscheiden. Außerdem hat das Kloster durchaus auch einen Nutzen von meinen Fähigkeiten.« Selig lächelnd sah er der Puppe zu, wie sie glockenklingend in einem weiten Kreis durch den Raum fuhr. »Aber es gibt natürlich auch Widerstand.«
    »Frater Johannes, nehme ich an?«, fragte Simon neugierig.
    »Frater Johannes?« Der kleine Mönch wandte den Blick von seinem Automaten ab und starrte Simon verständnislos an.
    Entschuldigend hob der Medicus die Hände. »Verzeiht, aber ich sah Euch beide heute Vormittag in einen heftigen Disput verwickelt.«
    Es dauerte noch einen Augenblick, dann hellte sich ­Virgilius’ Gesicht schlagartig auf. »Natürlich, Johannes! Ihr habt recht. Wie bereits gesagt, ein unbeherrschter Mann, dem gelegentlich der nötige Weitblick fehlt.« Er senkte den Blick. »Wir hatten schon öfter Streit, aber diesmal hatte ich beinahe ein wenig Angst um meine Gesundheit. Johannes kann sehr jähzornig sein, müsst Ihr wissen. Das mag an seiner Vergangenheit liegen.«
    »Was für eine Vergangenheit?«, erkundigte sich Simon. Doch in diesem Augenblick brach das Glockenspiel des Automaten plötzlich ab, und ein hässliches Quietschen ertönte aus seinem Inneren. Frater Virgilius eilte erschrocken zu der Puppe hinüber.
    »Verflucht!«, zischte er. »Vermutlich wieder eine lose Schraube irgendwo im Uhrwerk. Warum kannst du nicht einmal ohne eine Störung laufen, störrisches Weibsbild!«
    Er knöpfte Auroras rotes Kleid am Rücken auf, und eine eiserne Platte kam zum Vorschein. Leise murmelnd kramte er unter seiner Kutte einen winzigen Schraubenschlüssel hervor und begann den Rücken der Puppe aufzuschrauben. Von einer Sekunde auf die andere schien er Simon völlig vergessen zu haben.
    »Es … es war nett, Euch kennengelernt zu haben«, murmelte Simon und strich sich

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