Der Hexer und die Henkerstochter
Simon konnte sich vorstellen, welche Folgen ein Besuch des Landrichters haben würde. Auch in Schongau war vor einigen Jahren der kurfürstliche Stellvertreter zu einem Hexenprozess erschienen, samt vielköpfigem Tross und lärmenden Soldaten. Die Stadt hatte noch Monate danach an den Kosten zu tragen gehabt.
»Es geht hier um einen Mord, Maurus«, mahnte der Prior und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich sogar einen zweifachen, wenn Virgilius verschwunden bleibt.« Er zuckte mit den Schultern, und Simon glaubte, eine leise Genugtuung in seinen Augen funkeln zu sehen. »Ich fürchte, wir werden um den Weilheimer Landrichter nicht herumkommen.«
Der Medicus trat einen Schritt näher und räusperte sich. »Verzeiht, aber vielleicht hat Frater Johannes sogar drei Männer auf dem Gewissen.«
Der Prior runzelte die Stirn. »Wie meinen?«
Zögerlich holte Simon seinen Bericht aus der Tasche und legte ihn dem Rat vor. In kurzen Worten berichtete er von seinem Verdacht zum Tod des Novizen Coelestin.
Eine ganze Weile sagte keiner mehr ein Wort.
Endlich meldete sich der Abt, sein Gesicht war mittlerweile kalkweiß. »Soll das heißen, Bruder Johannes hat zuerst seinen Gehilfen Coelestin umgebracht, dann Vitalis und womöglich noch Virgilius? Aber … aber warum?«
»Das wissen wir doch nur zu gut!«, fauchte Bruder Eckhart. Seine Glatze war rot angelaufen, und kleine Äderchen traten darauf hervor. »Haben die beiden nicht immer wieder gotteslästerliche Experimente betrieben? Johannes und Virgilius? Haben wir nicht erst vor zwei Wochen Bruder Johannes verboten, weiter an Dingen zu forschen, die nur Gott allein etwas angehen? Und doch hat er weitergemacht!« Er stand schwer schnaufend von seinem Stuhl auf und schlug mit der Hand so hart auf den Tisch, dass die Mönche erschrocken zu ihm hinüber starrten. »Ich sag euch, was passiert ist: Der brave Novize Coelestin wollte seinen Meister daran hindern, weiter mit Teufelswerk zu experimentieren. Da hat Johannes ihn einfach umgebracht! Schließlich kam es zu einem Streit zwischen den beiden Hexern Johannes und Virgilius, mit Kugeln von Feuer und Schwefel haben sie sich bekämpft, bis sich Virgilius am Ende in Rauch auflöste, zur Hölle fuhr und sein Gehilfe von den Hexensprüchen seines Feindes niedergestreckt wurde!«
»Unsinn«, murmelte der junge Novizenmeister. »Niemand löst sich in Rauch auf. Es muss eine andere Erklärung geben.«
»Denkt an die Wunden des armen Vitalis«, gab der Prior nun zu bedenken. »Gott sei seiner Seele gnädig. Die waren ganz offensichtlich nicht natürlichen Ursprungs.«
»Dafür müsste man sie genauer unter…«, wollte Simon gerade einwenden. Doch der alte Bibliothekar hob die zittrige Hand und fuhr dazwischen.
»Etwas anderes ist in diesem Zusammenhang noch erwähnenswert«, sagte er mit belegter Stimme. »Ihr kennt doch alle diesen Automaten, an dem Virgilius so hängt. Dieses glockenspielende blecherne Weibsbild.«
»Ich hoffe doch sehr, es ist zerstört worden«, brummte Bruder Eckhart. »Das wäre wenigstens ein Lichtblick. Gott allein darf Leben erschaffen, nicht der Mensch.«
»Nun, es ist noch … schlimmer«, fuhr der Bibliothekar zögerlich fort. »Unsere Brüder Martin und Jakobus haben mir berichtet, dass der … nun, dass der Automat verschwunden ist.«
»Verschwunden?« Der Prior schüttelte den Kopf. »So wie Virgilius? Aber wie ist das möglich? Diese Puppe ist so groß wie ein Mensch und bestimmt höllisch schwer. Wie kann jemand …«
»Mein Gott!« Bruder Eckhart stand noch immer, er hatte die Hände jetzt zum Gebet gefaltet und den Blick theatralisch hinauf zur Decke gerichtet. »Versteht ihr denn nicht, was sich zugetragen hat? Begreift ihr nicht das Grauen?« Seine Stimme zitterte. »Dieses … Wesen! Es ist zum Leben erwacht und hat sich seines Meisters bemächtigt. Irgendwo hier im Kloster treibt ein Golem sein Unwesen! Gott schütze uns!«
Entsetztes Gemurmel war von allen Seiten zu hören, einige der Mönche bekreuzigten sich oder hielten sich an ihren Rosenkränzen fest, und auch Simon spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken kroch. Er musste an den Automaten in der Werkstatt des Uhrmachers denken, an das leblose Gesicht und den auf und zu klappenden Mund, an die leicht falsche Melodie eines Glockenspiels, die aus dem Inneren ertönte. Er sah die Puppe wieder vor sich, wie sie surrend durch den Raum fuhr.
Wie ein Geist, der von Rachsucht getrieben schwerelos dahingleitet , ging es
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