Der Hexer und die Henkerstochter
verschwunden. Dafür stieß er in der Mitte des Zimmers auf eine große Lache Blut. Darin lag die zerrissene schwarze Kutte von Frater Virgilius und daneben ein verrußter Schraubenschlüssel.
»Es sieht nicht danach aus, als hätte Virgilius diesen Raum lebend verlassen«, murmelte er. Ein entsetzlicher Gedanke schoss Simon durch den Kopf, so absurd, dass er ihn gleich wieder in die hintersten Winkel seines Geistes verbannte.
Konnte es sein, dass die Puppe ihren Meister getötet und verschleppt hatte? War so etwas möglich?
Plötzlich knirschte etwas unter seinen Füßen. Als der Medicus sich bückte, hielt er einen kleinen, blutverschmierten Messingring mit zerbrochener Linse in der Hand. Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, um was es sich handelte.
Es war das Okular von Frater Johannes. Das Okular, das der Mönch gestern im Apothekerhaus getragen hatte.
Gerade wollte Simon sich zu Magdalena umdrehen, als er zwei schwarz gewandete Gestalten in der Tür erblickte. Es waren Benediktiner, die mit schreckensbleichen Gesichtern auf den toten Vitalis zu ihren Füßen starrten.
»Bei der Heiligen Jungfrau, was ist hier geschehen?«, ächzte der eine, während der jüngere hinüber zu Magdalena blickte und ein Kreuzzeichen schlug.
»Eine Hexe!«, wimmerte er und fiel auf die Knie. »Eine Hexe hat unsere lieben Brüder Virgilius und Vitalis auf dem Gewissen. Herr im Himmel, hilf uns!«
»Äh, das ist nicht ganz richtig«, meldete sich Simon zaghaft aus der Dunkelheit, was die beiden Mönche entsetzt aufschreien ließ.
»Eine Hexe und ihr nach Schwefel stinkender Gevatter!«, zeterte nun der Ältere. »Das ist das Ende der Welt!«
Laut jammernd und klagend rannten sie den Berg hinauf zum Kloster, wo soeben Glockengeläut eingesetzt hatte. Nervös drehte Simon das zerstörte Okular zwischen seinen Fingern hin und her. So wie es aussah, würde er seinen Bericht noch einmal neu schreiben müssen.
Tief unten in seinem Versteck las der Mann die Nachricht, die ihm sein Helfer soeben überbracht hatte. Ein feines Lächeln zog sich über sein Gesicht. Sie hatten den toten Gehilfen gefunden, das Chaos entdeckt, der Uhrmacher war verschwunden; nun würde alles Weitere seinen Lauf nehmen.
Das Einzige, was störte, war dieser neunmalkluge Bader und seine verfluchte Kebse. Was hatten sie auch überall herumzuschnüffeln! War dem Weibsbild oben im Turm vielleicht etwas aufgefallen? Und warum hatte ihr Mann sich gestern am Weiher umgesehen? Die beiden waren wie ein lästiges Furunkel, das juckte und schmerzte. Keine wirkliche Gefahr, aber doch immerhin spürbar. Der Mann beschloss, die beiden noch mehr beobachten zu lassen. Aus Erfahrung wusste er, was man mit schmerzenden Furunkeln machte.
Man schnitt sie heraus.
Erfüllt von neuer innerer Gelassenheit erhob er sich und ging hinüber zu dem schweren Eichentisch, der über und über mit Büchern und Pergamenten bedeckt war. Manche stammten aus fernen Ländern, deren Namen den meisten Menschen nichts sagten, manche waren in Schnörkeln und Runen geschrieben, eines von ihnen sogar mit Blut. Alle waren sie einem Geheimnis auf der Spur, so uralt, dass es zurückreichte in die Anfänge der Menschheit. In die Anfänge des Glaubens, als irgendein fellbekleideter Höhlenbewohner einen glänzenden Stein, ein Knöchelchen oder einen Schädel in den Händen hielt, sich schließlich niederkniete und ihn küsste.
Es war allein der Glaube, der dem toten Ding Leben einhauchte.
Der Mann beugte sich über die Bücher, schloss die Augen und fuhr mit seinen Fingern über die mit Blut geschriebenen Zeilen. Irgendwo in diesen Büchern war die Lösung verborgen.
Er ahnte, dass noch mehr Blut fließen musste, um sie endlich zu finden.
Nur eine Stunde später stand Simon vor dem Klosterrat, der im sogenannten Fürstentrakt im zweiten Stock tagte. An einem langen Tisch am Kopfende des Raums saß der Andechser Abt Maurus Rambeck, rechts neben ihm sein Stellvertreter, der Prior Bruder Jeremias, außerdem der Cellerar, der Novizenmeister und der Kantor, der unter anderem für die Pflege der Bibliothek zuständig war. Düster und vorwurfsvoll starrten sie ihn an, so als wäre es bereits erwiesen, dass er mit dem schrecklichen Mord etwas zu tun hatte.
Simon schluckte. Kurz war ihm, als könnte er schon das brennende Feuer des Scheiterhaufens unter seinen Füßen spüren. In diesem Augenblick beneidete er Magdalena, die als Frau nicht im Klostertrakt zugelassen war. Die Mönche hatten sie bis
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