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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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Rituale …
    Einen Augenblick zögerte sie noch, dann machte sie sich auf die Suche, um den Ursprung der Melodie zu ergründen. Das Geräusch schien von rechts zu kommen, wo eine alte Mauer den Kirchplatz von der Wildnis dahinter trennte. Sie fand ein kleines Gatter, hinter dem einige verwitterte Stufen zu einem Pfad rechts an der Mauer entlang führten. Links davon gähnte eine steile Schlucht, die bereits zum Kiental gehörte. Etwas entfernt ragten die dunklen Umrisse einer ­Kapelle auf.
    Kurz glaubte Magdalena, das Geräusch nicht mehr zu hören, aber dann war es wieder da. Es ertönte irgendwo vor ihr, zwar leise, aber doch deutlich vernehmbar. Auch ein Rattern und Surren glaubte sie zu vernehmen. Die Henkerstochter blieb stehen und hielt den Atem an. Angestrengt lauschte sie. Die Melodie war jetzt ganz nah, nicht vor oder hinter ihr, sondern … unter ihr.
    Magdalena blieb wie versteinert stehen. Tatsächlich schien das Geräusch irgendwo aus dem Inneren des Heiligen Berges zu kommen. Sie sah sich in der Dämmerung nach einer Felsnische oder Höhle um, konnte aber nichts Derartiges entdecken. Während sie noch suchte, wurde die Melodie wieder leiser, so als würde sich ihr Urheber langsam entfernen.
    Plötzlich vernahm sie ein Zischen, und im gleichen Moment streifte sie etwas am Hals. Es brannte, als hätte sie eine fette Pferdebremse gestochen. Magdalena fasste sich an die Stelle und spürte Feuchtigkeit. Als sie ihre Hand im Mondlicht betrachtete, war sie rot von Blut.
    Was geht hier vor? Schießt etwa jemand auf mich? Aber ich habe doch gar keinen Knall gehört …
    Für weitere Überlegungen blieb keine Zeit. Wieder ertönte ein Zischen, und Magdalena warf sich in letzter Sekunde auf den Boden. Über ihr schlug etwas in den Baumstamm ein. Jetzt war sie sich sicher, dass es Schüsse sein mussten. Sie rappelte sich auf und rannte geduckt den Pfad entlang. Ein letztes Mal rauschte etwas zischend an ihr vorüber und ließ den Mörtel in der Mauer aufspritzen, dann hatte Magdalena das Gatter erreicht. Getrieben von nackter Panik hetzte sie auf den leeren Kirchplatz. Beinahe fürchtete sie, der Automat würde ratternd und surrend hinter den Kalksäcken auftauchen, den Mund weit geöffnet, um sie zu verschlingen. Doch als sie sich umdrehte, war da nichts. Nur Dunkelheit und das Rauschen der Zweige im Wald hinter der Mauer.
    Atemlos lief sie die Gasse hinunter, wo Simon gerade aus der Taverne trat.
    »Magdalena!«, rief er erleichtert aus. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Die Messe ist doch schon lang …« Dann erst sah er sie genauer an. »Mein Gott!«, hauchte er. »Du blutest ja! Was ist geschehen?«
    Magdalena griff sich an den Hals, der noch immer nass von Blut war. Etwas hatte ihr die Haut aufgerissen, und die Wunde brannte höllisch. Auch der Kragen ihres Umhangs war mit Blut getränkt.
    »Der Automat … er ist … irgendwo unter uns …«, brachte sie noch hervor. Dann knickten ihr die Beine weg. Angst, Blutverlust und Erschöpfung forderten ihren Tribut, und sie brach ohnmächtig zusammen.
    Das Letzte, was sie wahrnahm, war, dass Simon sich über sie beugte. Sein Mund klappte lautlos auf und zu, wie bei einer Puppe, irgendwo tickten gigantische Zahnräder.
    Dann umfing sie Schwärze.

Dienstag, der 15. Juni Anno Domini 1666,
vormittags auf dem Ammersee
    as Boot schaukelte und tanzte so heftig auf den Wellen, dass Jakob Kuisl alle Mühe hatte, seine Enkel am Ertrinken zu hindern. Trotz des blauen Himmels wehte über dem Ammersee ein starker Wind, der kleine Schaumkronen auf das Wasser zauberte und die Gischt wie feinen Regen über den ganzen Kahn verteilte. Die Kinder schrien vor Vergnügen und versuchten immer wieder, sich den starken Armen ihres Großvaters zu entwinden, um sich über die Reling zu stürzen.
    »Zwei wahre Plagegeister hast du da. Deine Enkel?« Der alte Fährmann grinste und schwang seinen Körper im Takt des Ruderns vor und zurück. Sein wettergegerbtes Gesicht war von der Anstrengung rot gefärbt, während er die Ruderblätter tief ins Wasser tauchte. Trotzdem löcherte er den Henker weiter mit Fragen. Seit dem Beginn ihrer Fahrt in Dießen hatte er noch keine einzige Minute geschwiegen.
    »Willst sie wohl drüben in Herrsching aussetzen?«, hakte er spöttisch nach. »Oder verscherbelst du sie gleich an einen wandernden Hausierer?«
    »Wenn’s so weitermachen, schenk ich sie dem Kloster als fette Engel überm Altar. Dann müssen sie wenigstens still­halten.«
    Jakob

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