Der Hexer und die Henkerstochter
einer Kordel zusammengeschnürt war. Mühsam humpelte die Greisin auf den Henker und seine Enkel zu. Als sie ihm gegenüberstand, blickte Kuisl in milchig weiße Augen. Die Alte war ganz offensichtlich blind.
»Der Herr schütze dich«, murmelte die Frau und streckte zitternd ihre Hände aus. »Bist du’s, Frater Johannes? Hast du mir wieder ein wenig Bucheckerngrütze gekocht?«
»Ich … ich bin nur ein Pilger auf dem Weg nach Andechs«, erwiderte Kuisl stockend. »Sag, Alte, führt dieser Weg zum Kloster?«
Die Greisin zuckte zusammen, erst nach einer Weile entspannte sie sich wieder.
»Du hast große Sünde auf dich geladen«, flüsterte sie. »Große Sünde! Ich spüre das. Der Teufelsfelsen hat dich zu mir gelockt, nicht wahr?«
»Der Teufelsfelsen?« Kuisl schüttelte den Kopf. »Weib, ich hab jetzt keine Zeit für deine Spinnereien. Hier sind zwei Bälger, die ihre Mutter brauchen. Also, was ist? Führt dieser Weg nun …«
»Dies ist der Eingang zur Hölle!«, zischte die Frau plötzlich und deutete auf die Höhle hinter ihr. Ihre Stimme bekam jetzt etwas Hartes, das Weiß ihrer Augäpfel schien von innen her zu leuchten. »Ich wache darüber, weil der Satan zurück auf die Erde kommt. Doch ich habe keine Macht über ihn. Er singt, er ächzt, er stöhnt, ich kann ihn des Nachts hören, wenn er seinen pestbeuligen Leib durch die Gedärme des Bergs schiebt.« Sie griff mit ihrer ausgezehrten Hand nach Kuisl, so dass dieser unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Hab acht, Wanderer! Ich spüre, dass du auf den Pfaden Luzifers wandelst. Wer bist du? Ein Söldner, der Unglück auf sich geladen hat? Ein Mörder? Wie viele Menschen hast du auf dem Gewissen? Sag, wie viele?«
»Ich bin der Schongauer Scharfrichter«, knurrte Kuisl. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten »Frag die Ratsherren, die führen Buch. Und jetzt lass mich durch. Bevor ich noch einen Menschen mehr umbring.«
Der Henker wischte die Hand der Alten beiseite und eilte an ihr vorbei.
Zornig stampfte die Greisin mit ihrem krummen Gehstock auf. »Es ist kein Zufall, dass der Herrgott dir diesen Weg gewiesen hat!«, schrie sie ihm hinterher. »Erkenne die Wahrheit, Henker! Das Jüngste Gericht ist nah! Ich kann die Dämonen graben hören. Sie wühlen sich durch das Erdreich, sie stecken ihre langen Klauen durch das modrige Laub! Bald sind sie hier, schon bald! Tu Buße, Henker! Schon bald wird dich das Unglück wie ein Blitz treffen!«
Die Kinder fingen nun zu weinen an, und Jakob Kuisl hastete weiter den steilen Pfad empor, bis die Stimme der Alten nur noch als fernes Echo zu hören war. Sein Herz schlug rasend schnell, und das lag nicht nur an der Anstrengung. Die Greisin hatte irgendetwas tief in ihm berührt, etwas Schwarzes, Dunkles am Grunde seiner Seele. Es war, als würden all die Toten der vergangenen Jahrzehnte, die Gefolterten, Geräderten, Gehängten und Geköpften gleichzeitig um Vergeltung schreien. Er musste an seinen Tagtraum gestern Abend denken, an die Erinnerungen vom Krieg, die ihm durch den Kopf geschossen waren.
Wie viele Menschen hast du auf dem Gewissen? Sag, wie viele?
Zum ersten Mal seit langem spürte Jakob Kuisl echte Angst.
Er schüttelte sich und eilte weiter den ausgetretenen schattigen Pfad entlang. Zweige schienen nach ihm zu greifen, Blätter streiften sein Gesicht. Die Kinder greinten und jammerten, und Peter riss ihn immer wieder an den Haaren, wie ein zorniger kleiner Gnom, ein Nachtmahr, der auf seinen Schultern tobte.
Kuisl taumelte vorwärts, beinahe wäre er gestürzt, dann endlich schob er einen letzten grünbelaubten Ast beiseite und blickte auf eine sonnige Lichtung mit Wiesen und Feldern, auf denen hellbraune Gerstenähren im Wind wogten. Dahinter lag im grellen Licht des frühen Nachmittags das Kloster.
Das Grauen war verschwunden.
Plötzlich musste der Henker laut lachen. Er hatte sich wie ein Kind ins Bockshorn jagen lassen. Von einem alten Weib, das etwas von Rache und Vergeltung faselte! Was war nur mit ihm los? Es war wirklich Zeit, die Kinder Mag dalena zu überlassen und sich ganz auf sein eigentliches Vorhaben zu konzentrieren. Bevor er sich noch selbst in einen ängstlichen Buben verwandelte, der sich vor Ammenmärchen grauste.
Mit neuem Mut wanderte Jakob Kuisl entlang der Felder auf das Kloster zu. Doch insgeheim beschloss er, in den nächsten Tagen zu beten und um Vergebung zu bitten.
Nicht dass er wirklich daran glaubte, aber es konnte auf alle
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