Der Hexer und die Henkerstochter
Kuisl bleckte die Zähne und drückte beide Kinder sanft unter die Ruderbank, wo sie sich unter Gekicher und Gepruste in ein stinkendes Netz einwickelten. Peter spielte mit einem alten Fischkopf, während der kleine Paul mit seinen Patschhänden nach ein paar lebenden Krebsen in einem Korb griff. Immerhin gaben sie jetzt Ruhe. Doch an eine gemütliche Pfeife während der Überfahrt war trotzdem nicht zu denken.
Schnaufend wischte sich der Henker den Schweiß von der Stirn. Er hatte sich mittlerweile bereits ein Dutzend Mal gefragt, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, die beiden Enkel nach Andechs mitzunehmen. Schließlich ging es um das Leben seines einst besten Freundes, der wegen Mordes und Hexerei dort im Kerker saß. Nun, spätestens oben auf dem Heiligen Berg würde die Narretei ein Ende haben, dann konnte Kuisl die Kinder endlich ihrer Mutter übergeben. So wäre Magdalena wenigstens beschäftigt und würde nicht wie so oft ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angingen.
Nachdenklich blickte Jakob Kuisl zurück auf das Dießener Ufer, das kleiner und kleiner wurde. Der Turm der Klosterkirche war jetzt nur noch so lang wie seine Hand, dahinter ragten die Wessobrunner Anhöhe und der Hohe Peißenberg empor. Mit zwei Pferden, die der Henker sich von den betuchten Schreevogls geliehen hatte, war er zusammen mit seinem Sohn Georg in aller Früh von Schongau aufgebrochen. Während Georg mit den Pferden wieder heimkehrte, hatte Kuisl in Dießen nach einem Boot Ausschau gehalten. Der alte Fährmann wusste nichts von Kuisls Beruf, und das war auch besser so. Einen leibhaftigen Henker hätte kein Fischer der Welt auf seinen Kahn gelassen, die Seeleute galten ohnehin als besonders abergläubisch. Und auch Kuisls Fährmann hatte bei dem stärker werdenden Wind bereits mehrmals zum heiligen Petrus, dem Patron der Fischer und Seefahrer, gebetet.
»Pilgerst wohl nach Andechs mit den zwei Kleinen?«, fragte der alte Fischer jetzt. Als er keine Antwort erhielt, fuhr er inbrünstig fort: »Wir sollten täglich zur heiligen Mutter Gottes beten, dass wir so nah an diesem gesegneten Ort leben, fürwahr! Bestimmt zehnmal war ich schon oben auf dem Heiligen Berg. Glaub mir, ich habe mehr Reliquien gesehen, als in dieses Boot passen.«
Und trotzdem ersaufen die Leut auf dem See , dachte Jakob Kuisl. Da hilft alles Beten nichts.
Mit leisem Schaudern dachte der Henker an eine Gewitternacht vor einigen Jahren, als ein großes Pilgerschiff mit Mann und Maus auf dem Ammersee untergegangen war. Nur zwei Kinder wurden damals gerettet. Die Leute sprachen von einem Wunder, so als könnte damit die Trauer über die dreißig Ertrunkenen gemildert werden.
»Am wertvollsten sind natürlich die Heiligen Drei Hostien«, plauderte der Fischer munter weiter, ohne sich an der Schweigsamkeit seines Gegenübers zu stören. »Die werden nur einmal im Jahr am Dreihostienfest gezeigt. Aber es gibt auch das Siegeskreuz Karls des Großen, einen Zweig aus der Dornenkrone Christi, die Hälfte seines Schweißtuchs, den Gürtel Mariens, das Brautkleid der heiligen Elisabeth, die Stola des heiligen Nikolaus und …« Er hielt einen Moment lang inne und senkte verschwörerisch die Stimme. »Die Vorhaut unseres Heilands, die ihm die verfluchten Juden im zarten Alter von …«
»Kümmer dich lieber ums Rudern, sonst helfen uns alle schönen Reliquien nichts«, unterbrach ihn der Henker und deutete zum Himmel. »So wie es ausschaut, braut sich da oben bereits ein neues Gewitter zusammen.«
Der Fährmann zuckte zusammen und tauchte die Ruder tief ins Wasser ein. Tatsächlich schob sich von Westen her eine dunkle Wolkenbank auf den See zu.
»Verdammte Unwetter!«, fluchte der alte Mann. »Hab selten so viele erlebt wie in den letzten Wochen. Wenn das so weitergeht, steht bald kein Halm mehr auf den Feldern. Der Herr zürnt uns. Möchte nur wissen, warum.«
»Vermutlich straft er die unermüdlich Plappernden«, murmelte Kuisl. »Vielleicht solltest du mal wieder nach Andechs zur Wallfahrt gehen. Dort oben kann man wenigstens nicht ersaufen.«
»Aber vom Blitz erschlagen werden!« Der Fährmann lachte und schob seinen Hut in den Nacken. »Glaub mir, so oft wie dort oben schlägt nirgendwo der Blitz ein. Erst vor ein paar Tagen hab ich ihn wieder in die Turmruine einfahren sehen. Fast hätte man meinen können, die Turmspitze hätte den Blitz angezogen. Grün und blau hat’s geflimmert wie beim Jüngsten Gericht. Ich dachte schon, der ganze
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