Der Hexer und die Henkerstochter
Hosen über dampfende Haufen von Pferdemist stolzierten. Immer wieder stimmte jemand ein kirchliches Lied an, und die anderen fielen ein.
»Kommt, ihr Sünder, kommt gegangen. Schaut den wahren Gottessohn …«
Simon und ihr Vater hatten die beiden Kinder mittlerweile huckepack genommen, um leichter durch die Menge zu kommen. Magdalena spürte, wie sie das Singen und Beten ringsumher ruhig und friedvoll machte. Es roch nach Weihrauch, gebratenem Fisch und Straßenstaub. Irgendwo krähte ein Bub nach seiner Mutter.
»Wie hast du uns in dem Gewühl überhaupt gefunden, Vater?«, fragte Magdalena unvermittelt, während sie durch die Menschenmenge hoch zur Kirche schritten.
»Ich war unten beim Vetter Graetz«, brummte der Henker. »Zuerst war da nur so ein stummer rothaariger Bauerntrottel, der mich nicht reinlassen wollte. Aber schließlich ist der Michael mit seinem Schinderkarren gekommen. Der hat mir dann gesagt, dass mein grundgütiger Schwiegersohn sich selbst hier in Andechs um die Kranken kümmert.«
»Weiß denn der Graetz, warum Ihr hier seid?«, erkundigte sich Simon besorgt. »Vielleicht ist es zurzeit besser …«
»Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Für den Graetz bin ich auf Pilgerreise. Das hat ihm gleich eingeleuchtet. Meint wohl, ich könnt es brauchen.« Ungeduldig klatschte Kuisl in die Hände. »Aber jetzt ist endlich Schluss mit dem Getratsche! Sagt mir lieber, was mit dem hässlichen Nepomuk geschehen ist und was ihr um Himmels willen damit zu schaffen habt.« Er sah sich wütend um. »Verfluchtes Gewimmel. Ich weiß schon, warum ich sonst nie auf eine Wallfahrt geh.«
»Ich glaube, ich weiß einen Ort, wo wir ungestört sind«, erwiderte Magdalena grinsend, die wusste, wie empfind lich ihr Vater auf große Menschenansammlungen reagierte. Eine öffentliche Hinrichtung war allein deshalb schon für ihn immer ein Graus. »Folgt mir!«, rief sie den anderen zu. »Ich wollte euch ohnehin etwas zeigen.«
Sie überquerte den überfüllten Kirchplatz mit seinen Steinhaufen und Kalksäcken und strebte dem kleinen Gatter zu, das sie gestern Nacht entdeckt hatte. Gefolgt von den anderen betrat sie den schmalen Pfad jenseits der Klostermauer, der nach einem kleinen Fußmarsch zu einer Kapelle im Wald führte. Schon bald wurde der Lärm der Menge leiser, nur ein einzelner grimmiger Holzfäller kam ihnen entgegen, dann waren sie endlich allein. Die Kinder krabbelten vergnügt über ein paar herausgebrochene Mauerstücke, und Simon gab ihnen ein paar Tannenzapfen und Bucheckern zum Spielen.
»Hier habe ich gestern die Melodie gehört«, sagte Magdalena leise.
»Welche gottverfluchte Melodie?«, knurrte Kuisl. »Jetzt red schon, Mädchen, bevor ich dir Daumenschrauben ansetzen muss.«
Magdalena ließ sich auf einem umgefallenen Baumstamm unweit der Kapelle nieder und begann zu erzählen, was sie und Simon die letzten drei Tage erlebt hatten. Sie berichtete von den beiden Toten, vom Blutbad in der Werkstatt des Uhrmachers und dem verschwundenen Automaten samt seinem verschollenen Meister. Auch die zwei Anschläge auf ihr Leben erwähnte sie.
»Irgendjemand hat hier an der Mauer auf mich geschossen«, endete sie schließlich. »Das Merkwürdige ist nur: Ich habe gar keinen Schuss gehört. Nur so ein Zischen.«
»Ein Zischen? Vielleicht war’s ein Armbrustbolzen …« Nachdenklich suchte ihr Vater die umliegenden Bäume ab. Vor einer nahen Buche blieb er plötzlich stehen und kratzte mit dem Finger etwas aus dem Stamm. Stirnrunzelnd hielt der Henker eine Bleikugel in die Höhe. »Die hier ist frisch«, brummte er. »Ein ziemlich großes Kaliber. Bist du wirklich sicher, Mädchen, dass du keinen Schuss gehört hast?«
»Vater, ich mag störrisch und verbohrt sein, aber ich bin nicht taub.«
»Seltsam.« Jakob Kuisl rieb die schwere verformte Bleikugel zwischen seinen schwieligen Fingern. »Es gibt eigentlich nur eine Waffe, die dafür in Frage kommt. Aber sie ist sehr selten und wertvoll. Ich hab sie nur ein einziges Mal im Krieg gesehen.«
»Also war’s doch dieser Nepomuk!«, warf Simon aufgeregt ein. »Schließlich war er ein Söldner und …«
»Schmarren!« Der Henker spuckte angewidert aus. »Der Nepomuk saß zu der Zeit doch längst im Kerker. Das habt ihr mir selbst erzählt, also bleibt hübsch bei der Wahrheit. Einen Sündenbock suchen diese windigen Mönchlein, das ist alles! Wenn sie nicht selbst die Finger mit im Spiel haben.«
»Trotzdem«, gab Simon zu bedenken.
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