Der Himmel auf Erden
ruhig.«
»Die Angelegenheit ist erledigt«, sagte Järnström, »was Sie angeht.«
»Und für wen ist sie nicht erledigt?«
»Jetzt verstehe ich Sie nicht ganz.«
»Ist es für den Besoffenen nicht erledigt? Es war doch allein seine Schuld.«
»Das ist ein Problem«, sagte Järnström.
»Für wen?«
»Für den Verkehr«, sagte Järnström. »Für die Fahrer«, sagte er jetzt. »Es ist ein Problem FÜR DIE FAHRER.«
»Ja.«
»Dann passieren solche Sachen.«
»Ja, ich weiß.«
»War sonst noch was?«
»Nein, im Augenblick nicht. Vielleicht brauchen wir später noch mal ein paar Details, aber…«
»Dann kann ich also wieder anfangen zu arbeiten?«
»Deswegen hab ich Sie ja angerufen.«
»Vielen Dank«, sagte er und legte auf. Er sah, dass seine Hand wieder anfing zu zittern. Jetzt war sie sauber, aber sie zitterte.
Er ging zurück in die Küche und setzte sich, stand aber gleich wieder auf und ging in den Flur. Er griff in seine rechte Jackentasche und nahm die Erinnerung an das Mädchen heraus.
Er setzte sich aufs Sofa und betrachtete es. Plötzlich begann er zu weinen. So weit war es noch nie gekommen. Nie. Er hatte gespürt, dass es jetzt passieren würde, und war einen großen Kreis gefahren, um dem zu entkommen, aber stattdessen war er von der Spirale aufgesogen worden, und er hatte gewusst, dass es so enden würde.
Wie würde es das nächste Mal enden?
Nein NEIN NEIN NEIN!
Er stand auf, um die Kamera aus dem Flur zu holen, und der innere Kampf setzte sich fort.
Er sah sich den Film auf dem Fernsehschirm an.
Er hörte die Stimme des Jungen, die ihn fragte, wie er heiße. Er hörte sich selbst antworten, obwohl er sich in dem Moment nicht bewusst gewesen war, dass er antwortete. Aber er nannte nicht seinen jetzigen Namen. Er sagte den anderen Namen, den er gehabt hatte, als er Kind gewesen war, ein kleiner Junge wie er, nein größer, aber trotzdem klein.
Auf dem Bildschirm flimmerte es. Autos, Bäume, Regen draußen, der Verkehr auf der Straße, eine Ampel und noch eine, seine eigene Hand am Lenkrad. Der Junge. Sein Haar. Jetzt keine Stimme, überhaupt keine Geräusche. Seine Hand. Wieder etwas Haar, kein Gesicht, in diesem Film nicht.
*
Winter versuchte bei der Musik zu denken. Sie passte zu der Novemberdämmerung dort draußen. Die Autoscheinwerfer auf der anderen Seite des Flusses waren jetzt heller als das Licht vom Himmel.
Er war denselben Weg gegangen wie der Jurastudent Stillman in jener Nacht. War die Treppen heraufgekommen und an seiner Zahnarztpraxis und der Bibliothek vorbeigegangen und hatte sich mitten auf den Platz gestellt, wo Stillman den Schlag versetzt bekommen hatte. Wie konnte das geschehen? Wieso hatte der junge Mann nicht gesehen, dass sich ihm jemand näherte? Vielleicht ein Radfahrer. Aber selbst den hätte er irgendwie hören müssen. Jemand hat sich von hinten angeschlichen. Tja. Nein, daran glaubte er nicht. Oder war es jemand, der zufällig gleichzeitig des Weges kam, von hinten oder von der Seite oder von vorn? Eher vorstellbar. Aber Stillman hätte es dann doch merken müssen, zum Teufel noch mal. Hätte hinterher davon berichten können müssen.
Er könnte jemandem begegnet sein, den er kannte.
Blieb noch die Alternative, dass er tatsächlich mit jemandem zusammen gewesen war, dessen Identität er nicht preisgeben wollte. Warum? Why? Porqué?
Das war die schwerste Frage, immer und in allen Sprachen. »Wer?« und »Wo?« und »Wie?« und »Wann?« waren die unmittelbaren Fragen, die unmittelbare Antworten forderten. Und wenn es darauf Antworten gab, dann war der Fall auch gelöst. Aber immer dieses »Warum?«, häufig wie ein kleiner Stachel in seinem Bewusstsein, noch lange danach. Etwas Ungelöstes. Wenn es sich denn erklären ließ. Nicht alles bringt Erklärungen mit sich. Das Leben wurde einem nicht erklärt.
Trotzdem. Wenn er dieses »Warum« klarer sehen könnte und das frühzeitig, dann würde er auch öfter und schneller zu dem »wer«, »wo«, »wie« und »wann« gelangen.
Es klopfte an der Tür, und er rief »herein«. Ringmar trat ein. Winter blieb auf seinem Stuhl sitzen, und Ringmar setzte sich auf die Schreibtischkante.
»Eine etwas zwielichtige Atmosphäre hier drinnen«, sagte Ringmar.
»Meinst du das Licht?«
»Was sonst?«
»Es ist so friedvoll«, sagte Winter.
Ringmar warf einen Blick auf den Panasonic, der schräg unterm Fenster auf dem Fußboden stand, und hörte einen Augenblick der Musik zu.
»Friedvolle Musik«, sagte
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