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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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sich ungefähr so vorgestellt. Es war die übliche Spannungsmache durch eine Vieldeutigkeit, die alles offenließ, aber in Andeutungen
     und Fragesätzen mit finsteren Möglichkeiten spielte. Die polizeiliche Ermittlungsarbeit war dem Vernehmen nach weiter ausgedehnt
     worden. Der Artikel stand mit breiter Überschrift auf der oberen Blatthälfte und war mit einem etwas verwischten Blitzlichtfoto
     vom Unfallort illustriert, auf dem er zusammen mit Karbe zu sehen war. Er hielt Karbe, während im Hintergrund der Unfallwagen
     aus dem Wasser gezogen wurde. Er erinnerte sich an die hölzerne Starrheit von Karbes |82| Körper. Auf dem Foto sah es wie eine Umarmung aus. Aber man erkannte kaum mehr als schattenhafte Umrisse. Die ausführliche
     Bildunterschrift versuchte das zu korrigieren: »Nächtliche Bergungsaktion am Baggersee. Die Feuerwehr beim Einsatz. Im Vordergrund
     Pfarrer Henrichsen mit dem Fahrer des Unfallwagens«.
    Seltsam. Jetzt, da der Augenblick zum Foto erstarrt war, hatte er für ihn an Wirklichkeit verloren. Die Szene wirkte wie nachgestellt,
     vielleicht auch wegen der langen erläuternden Unterschrift. Warum war überhaupt dieses Foto ausgewählt worden? Zufällig? Oder
     wegen der Szene im Vordergrund zwischen ihm und Karbe? Versprach man sich davon ein besonderes menschliches Interesse?
    Es erinnerte ihn daran, dass er unbedingt Kontakt zu Karbe aufnehmen musste. Er hatte noch die Karte mit der Telefonnummer
     von Polizeimeister Pfeiffer. Vielleicht stand der mit Karbe in Verbindung. Obwohl der Fall wohl inzwischen an die Kripo übergegangen
     war. Das kam ihm alles so vor, als wäre das Geschehen in eine abstrakte Dimension verschoben worden, in der es sich unabsehbar
     verwandelte, ohne dass er noch einen Zugang dazu finden konnte. Dagegen musste er sich wehren.
    Er hatte aufstehen wollen, doch stattdessen in der Zeitung geblättert und wahllos Aufsätze und Meldungen über Sport und Mode
     und neue medizinische Therapien gelesen, als ein kleiner junger Hund, irgendeine Mischung aus Corgi und Pinscher, sich schwanzwedelnd
     seiner Bank näherte, an seinem Hosenbein und |83| seiner hingehaltenen Hand schnüffelte und wieder weiterlief, um die nähere Umgebung zu erkunden. Er gehörte zu einer älteren
     Frau, die er oft in der Kirche gesehen hatte, deren Namen er aber nicht kannte. Sie war stehen geblieben und hatte lächelnd
     gesagt: »Er ist noch sehr jung und verspielt. Aber auch ein wenig scheu. Ich habe ihn aus dem Tierheim geholt.«
    »Dann hat er ja Glück gehabt«, sagte er.
    »Ja«, antwortete sie. »Er hat mich so bittend angesehen. Da konnte ich nicht anders.«
    »Das kann ich mir vorstellen.«
    Er hatte die Zeitung zusammengefaltet und war aufgestanden, um nach Hause zu gehen, als die Frau sagte: »Sie haben sicher
     gerade den Bericht gelesen. Ist das nicht furchtbar?«
    »Ja«, sagte er, »ganz furchtbar.«
    »Die Frau tot und das Kind ein lebender Leichnam! Wie kann man so etwas tun?«
    »Es war ein Unfall«, sagte er.
    »Aber wie konnte das geschehen? Wie soll man das glauben?«
    »Das wird sich zeigen«, sagte er schroff. »Die Polizei untersucht das Unfallgeschehen.«
    »Das sagt ja auch schon einiges«, sagte die Frau.
    Er konnte ihrer Stimme eine zähe Unnachgiebigkeit anhören, die wahrscheinlich aus vorausgegangenen konformen Gesprächen entstanden
     war. Da braute sich anscheinend etwas zusammen.
    »Verzeihen Sie, ich muss leider gehen«, sagte er und wandte sich ab.
    Das war kein guter Abgang, dachte er. Aber er war |84| plötzlich in Wut geraten und hatte den Anblick der Frau und ihre rechthaberische Art zu reden nicht mehr ertragen können.
     Beinahe wäre er noch über ihr Hündchen gestolpert, das ihm vor die Beine lief und nun hinter ihm herbellte, als wäre er auf
     der Flucht. Das war jetzt besonders lächerlich. Alles war lächerlich. Die Frau rief mit schriller Stimme den Kosenamen des
     Hündchens, und auch darin glaubte er ihre unbelehrbare Rechthaberei zu hören. Immerhin war er jetzt so weit von ihr entfernt,
     dass er einen selbstkritischen Gedanken fassen konnte: Ich muss lernen, besser mit Widerspruch umzugehen. So etwas darf mir
     nicht mehr passieren. Sonst mache ich mich unmöglich. Aber sie hat eine besondere Empfindlichkeit bei mir berührt. Vielleicht
     war es mein eigener innerer Widerspruch. Es hängt eben zu vieles in der Luft im Augenblick. Ich brauche Klarheit. Und sie
     wollte auch Klarheit und Eindeutigkeit Aber es passte nicht

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