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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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kontrollieren. Während er in der Schule war, hat er in der
     Regel zweimal am Vormittag angerufen, um zu überprüfen, ob sie auch zu Hause sei. Wenn sie sich nicht meldete, hat er bei
     seiner Rückkehr ein Verhör mit ihr angestellt. Er wollte dann genau wissen, von wann bis wann sie wo gewesen sei und wen sie
     getroffen habe. Umgekehrt musste sie ihn immer wieder zu Hause anrufen, wenn sie unterwegs war, um Einkäufe zu machen, zum
     Arzt oder zum Friseur zu gehen oder auch bei uns eine Tasse Tee zu trinken. Sie war immer in Hetze. Und das Schlimmste war,
     wenn man sie reden hörte: Hallo, mein Schatz, ich bin jetzt hier bei Angelika und Rainer. Ich muss jetzt noch rasch in die
     Drogerie, und in einer Stunde bin ich zu Hause. Nein, hier sind keine anderen Männer. Was du auch immer denkst! In einer Stunde
     bin ich da!«
    »Das ist ja wirklich furchtbar. Sie muss doch mit euch darüber gesprochen haben.«
    »Zuerst hat sie auch versucht, es als Marotte darzustellen. Aber dann hat sie gesagt: Ich halte es nicht mehr aus.«
    »Wollte sie ihn verlassen?«
    |129| »Wahrscheinlich. Aber sie war noch nicht so weit. Es muss auch andere Szenen gegeben haben. Karbe hat geweint und sie um Verzeihung
     gebeten. Er hat geschworen, sich zu bessern. Binnen Kurzem war es dann wieder wie vorher.«
    Sie gingen eine Weile nebeneinanderher, und es war ihr Schweigen, das ihm sagte, dass der Bericht noch nicht zu Ende war.
     Er ahnte, dass er von sich aus das Schweigen nicht brechen durfte, schon gar nicht durch die Frage, wie es weitergegangen
     sei. Rainer musste mit sich allein ausmachen, was er noch sagen wollte. Er wirkte wie jemand, der in seinem Kopf alles noch
     einmal durchging, bevor er redete. Aber dass er reden würde, war ihm jetzt klar. Trotzdem erschreckte ihn Rainers erster Satz:
     »Man konnte es kommen sehen«, sagte er.
    »Was? Was hat man kommen sehen?«
    »Dass sie es nicht mehr lange aushalten würde.«
    Er machte eine Pause, als suche er nach einem Anfang, ohne weit auszuholen.
    »Am Abend vor dem Unfall war sie bei uns. Den Jungen hatte sie zu ihren Eltern gebracht und war dann zu uns gekommen. Ich
     war nicht da, weil ich genau wie Karbe bei einem Schulfest war, für Kerstin eine Gelegenheit, einfach von zu Hause wegzulaufen.«
    »Hatte sie Gepäck dabei?«
    »Nein, das nicht. Aber Angelika hatte sie überredet, die Nacht über bei uns zu bleiben. Ich habe gewusst, dass das der Anfang
     vom Ende war. Es dauerte nicht lange, dann rief Karbe an. Angelika hat das Telefon |130| abgenommen und mit ihm gesprochen. Sie hat versucht, ihn zu beruhigen, was vielleicht falsch war, weil es den Ernst der Situation
     herunterspielte. Doch er war sowieso nicht zu beschwichtigen. Er verlangte, Kerstin zu sprechen, und sagte ihr, er fahre jetzt
     los, um sie abzuholen. Sie hat sich ihm nicht widersetzt. Angelika hat noch mit ihr zu reden versucht, sich dann aber rausgehalten.
     Als Karbe kam, saß der Junge im Auto. Er hatte ihn bei seinen Schwiegereltern abgeholt. Sein Schwiegervater war nicht zu Hause.
     Und die Schwiegermutter konnte sich nicht gegen Karbe durchsetzen, schon gar nicht in Gegenwart des Kindes. Die Sieverts und
     Karbe waren sich in nichts einig, nur darin, dass das Kind nach Möglichkeit verschont werden sollte. Das war auch Kerstins
     Haltung, und Karbe wusste das. Ich kam gerade nach Hause, als sie zusammen mit ihm die Wohnung verließ. Ich wusste nicht,
     was los war, sah nur, dass Angelika wie erstarrt wirkte, für mich ein Zeichen, dass etwas Peinliches passiert war, in das
     man sich besser nicht einmischte. Kerstin hat sich noch eilig von mir verabschiedet. Sie wirkte bedrückt und eingeschüchtert.
     Von Karbe habe ich keinen besonderen Eindruck behalten. Er stand dicht neben ihr, so unzugänglich wie immer.«
    »Glaubst du, dass es ein Verbrechen war?«
    »Ich glaube gar nichts.«
    Wieder senkte sich das Schweigen auf sie wie eine Last, die sie beide trugen und die ihre Gedanken lähmte. Auch er war sich
     nicht klar, was er eigentlich glaubte.
    |131| »Alles ist möglich«, sagte Rainer. »Ich kenne nur die Vorgeschichte.«
    Er nickte. Aber es war ihm bewusst, dass Rainer das nicht gesehen hatte, weil er beharrlich auf seine Füße blickte. Plötzlich
     fiel ihm ein zu fragen: »Hast du irgendjemand von diesem Abend und der ganzen Vorgeschichte erzählt?«
    »Vorgestern habe ich alles, was ich wusste, der Polizei zu Protokoll gegeben.«
    »Das ist natürlich …«, er machte eine Pause, weil er

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