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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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damit seine Erinnerungen. Mit jedem ihrer entschlossenen Schritte reißt sie sich von ihm los. Er kann sie nicht
     festhalten, sie nicht an sich binden. Jetzt ist sie um die Ecke verschwunden, und die Straße gehört dem Verkehr, der wie eine
     wischende Handbewegung seine Erinnerungen austilgt.
    Das war vor knapp zwei Jahren, als er kurz davor stand, sein Pfarramt anzutreten. Noch lebte er in dem Einzimmerapartment,
     das er von Patrik Graefe übernommen |143| hatte, der geheiratet hatte, nachdem er als einer der Ersten ihres Jahrgangs mit einem Pfarramt betraut worden war. Patrik
     und er hatten noch zwei Briefe gewechselt und hatten dann, jeder wahrscheinlich aus einem anderen Grund, den Kontakt verloren.
     Patrik war damit beschäftigt, sich in sein neues Amt hineinzufinden. Und er dagegen hatte vergeblich versucht, Claudia zu
     einem gemeinsamen Leben zu überreden. Auch wenn er allmählich seltener an sie dachte, spürte er immer wieder, dass sie ihn
     in seine alten Unsicherheiten zurückgestoßen hatte. Vorsichtig lebte er weiter, in den schützenden Konventionen seines Amtes,
     ohne Zukunft und möglichst ohne Vergangenheit.
    Bis er sie plötzlich vor einem halben Jahr in einer zufällig eingeschalteten Fernsehsendung wiedersah. Es war eine Talkshow
     für Paare mit Spieleinlagen, die als Liebestest galten, und sie und ihr Freund – war es noch derselbe oder wieder ein anderer?
     – waren eines der drei Paare, die unter Anleitung eines selbstgefälligen Moderators in einem papageibunten Hemd sich der Neugier
     eines gut gelaunten Publikums von Gleichaltrigen darboten, die ihre Antworten mit Applaus und Gelächter begleiteten. Das Thema
     des Abends lautete »Glücklichsein«, und der Talkmaster befragte die Paare, was sie darunter verstanden und wie sie es praktizierten.
     Claudia und ihr Freund, eine jüngere Kopie von Rainer, waren dabei, durch flotte Antworten, die sie wechselseitig erraten
     mussten, Punkte zu sammeln und den Happiness-Preis zu gewinnen: eine Woche in einem Vier-Sterne-Hotel |144| auf Ibiza. Erst kurz vor Schluss hatte er ausgeschaltet und war, erstarrt vor Peinlichkeit und Unverständnis, noch eine Weile
     vor der dunklen Mattscheibe sitzen geblieben. Wieso hatte Claudia sich so darstellen können, sie, die ihn verlassen hatte,
     weil sie glaubte, dass sie der Wahrheit ihres Gefühls folgen müsse? War das für sie das richtige Leben? Was war geschehen,
     dass sie sich so schamlos einreihte in diesen abgeschmackten, fröhlichen Schwachsinn? War sie immer schon so gewesen? Hatte
     er es bloß nicht bemerkt? Sie zeigte keinerlei Distanz, stieß kleine Schreie aus, wenn sie oder ihr Lover wieder gemeinsam
     einen Punkt gewonnen hatten. Die beiden waren das vom Publikum favorisierte Paar, und sie genoss sichtlich den Jubel, den
     sie mit ihren Antworten auslöste.
    Mehr und mehr hatte ihn bei ihrem Anblick ein Gefühl der Bodenlosigkeit ergriffen. Das Unechte, das Vorgetäuschte und das
     wiehernde Vergnügen, das es erzeugte, das war das Leben, das sie gewählt hatte! Jetzt, da er sich wieder an die Szene erinnerte,
     die er nach einem kurzen Kampf zwischen Ekel und Faszination ausgeschaltet hatte, glaubte er zu begreifen, wie Karbe die Welt
     sah. So verlogen, unverständlich und wertlos, ja vor allem auch wertlos, erschien ihm wahrscheinlich das ganze Leben. War
     das das Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hatte, als er das Lenkrad herumriss und den Wagen in den See lenkte? Aber warum
     hatte er sich dann gerettet?
     
    Er knipste das Licht an, um nicht tiefer in diesen Gedankensog zu geraten. Schlafen konnte er sowieso |145| nicht mehr. Es war kühl in der Wohnung, weil er vor dem Schlafengehen mehrere Fenster geöffnet hatte, und draußen hatte es
     sich anscheinend deutlich abgekühlt. Vielleicht fröstelte er auch, weil er müde war und geschwitzt hatte.
    Als er eine Jacke über den Schlafanzug zog, spürte er den Brief in der Brusttasche. Den hab ich ja auch noch, dachte er. Der
     ist nur für mich. Er hatte im Augenblick nur eine Erinnerung daran, wie an etwas Unglaubhaftes oder Zufälliges, das keinen
     Bestand hatte. Aber auch wie an etwas Mächtiges, das ihn bedrängt hatte und dem er sich jetzt nicht aussetzen wollte. Er wollte
     bloß noch einmal den Anfang lesen.
    Er entfaltete die Blätter und strich sie glatt. Oben stand sein Name, umgeben von viel weißem Raum. Ja, er war gemeint. Sie
     war ihm plötzlich nahe gerückt. Wie über den trennenden Tisch hinweg hörte er

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