Der Himmel ist kein Ort
müssen, seine Frau und sein Kind aus dem
versinkenden Wagen zu zerren, auch wenn es kaum aussichtsreich war. Stattdessen wandte er sich ab und kletterte den Hang zur
Straße hoch, offenbar auch ohne einen Gedanken an |140| das Alibi, das ein nachweisbarer energischer Rettungsversuch ihm in den Augen der Leute verschafft hätte.
Das alles sah nicht nach einem Plan aus, aber es hatte die böse Folgerichtigkeit eines verfehlten Lebens und zerstörerischer
Gedanken. Vielleicht war es das, was Karbe sich vorwarf und womit er nicht fertig wurde. Theologisch gesprochen war das ein
Zustand von Unerlöstheit, eine Fesselung an eine nicht mehr zu tilgende Schuld. Es war aber eine andere Schuld, als der sich
ausbreitende Verdacht ihm unterstellte.
Auch er hatte keinen Zugang zu diesem Menschen gefunden, wahrscheinlich, weil er ihn zu sehr gedrängt hatte, ihm anzuvertrauen,
was in der Unglücksnacht geschehen war. Das hatte Karbe vermutlich veranlasst, ihn unter seine Verfolger einzureihen. Und
eines war daran richtig: Er hatte die Neigung empfunden, das Schlimmste für wahr zu halten, weil er ein klares Motiv suchte,
über das sie miteinander sprechen konnten. Das Schlimmste war nicht das, was er am meisten fürchtete, denn es war, theologisch
gesehen, ein Umkehrpunkt. Ein Mord aus Eifersucht hätte ihm weniger Schwierigkeiten bereitet als die finstere Vieldeutigkeit
dieses ausgebrannten und lethargischen Menschen.
Es war nicht nur sein Amt, das ihn an diesen Fall band. Rainers Erzählung von Karbes Ehe und seiner chronischen Eifersucht
hatte ihm einen Schock versetzt. Und jetzt, da er allein war, spürte er erneut, wie ihn eine Welle mühsam zurückgedrängter
Erinnerungen |141| überkam: Claudias schmales Gesicht, in das immer zwei Strähnen ihrer nach hinten gebürsteten und dort zusammengebundenen Haare
hineinhingen, die sie ab und zu mit einer kurzen Kopfbewegung wegschüttelte oder ohne nachhaltigen Erfolg mit ihren Fingerspitzen
zur Seite strich, ihre Augen, die ihn ansahen, als prüften oder befragten sie ihn, und ihr Arm, der sich um seinen Nacken
schlang und seinen Mund sanft und langsam zu ihrem Mund herunterzog. Unvermittelt, als sei es noch derselbe Moment, sah er
eine andere Szene: Ihr Gesicht ist blass, ihre Lippen sind zusammengepresst. Sie wendet den Kopf ab und löst sich aus seinen
Armen. Dann steht er am Fenster und sieht sie fortgehen, ihre schmale Gestalt, die die Straße überquert und ohne Zögern auf
die Straßenecke zugeht, bei der sie aus seinem Blick und aus seinem Leben verschwinden wird. Er hofft, sie wird noch einmal
winken, wenn sie die Ecke erreicht hat, doch er ahnt, dass sie es nicht tun wird. Er sieht es ihren Schritten an, und in ihm
wächst eine Angst, die er kaum beherrschen kann, obwohl er weiß, dass auch ein Winken, auf das er wartet und das sie ihm versagt,
nichts anderes wäre als eine Abfindung ohne jede Bedeutung. Nein, sie wird es nicht tun, sie will nicht lügen. Sie kennt aus
all ihren Gesprächen in den letzten Wochen seine Neigung, aus einzelnen Worten und kleinen Gesten neue Hoffnungen abzuleiten
und immer »das gemeinsame Positive« in den Mittelpunkt zu stellen. Sein »bescheuertes Predigertum«, wie sie es genannt hat.
Aber sie hätte auch sagen können, seine Verzweiflung.
|142| Einmal, als er sie festhielt, damit sie ihm zuhörte, hatte sie mit beiden Fäusten gegen seine Brust getrommelt, als wollte
sie ihn zum Schweigen oder zur Aufgabe seiner Hoffnungen zwingen. Er hatte darin, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, noch ein
Zeichen von Vertrautheit gesehen. Jetzt aber geht sie. Das ist alles. Und mit jedem Herzschlag wächst seine Angst. Es ist
ein Gefühl von Verlassenheit und Nichtigkeit, das viel zu groß ist, um es beherrschen oder auch nur äußern zu können.
Jetzt geht sie. Aber das ist nicht alles. Sie geht von ihm weg zu einem anderen Mann. Ihn hat sie abgeschüttelt, als er sie
festhalten wollte. Ihre Schritte scheinen zu sagen, dort, wo ich jetzt hingehe, wartet alles auf mich, was mir gefehlt hat.
Er steht am Fenster und schaut ihr nach, durchdrungen vom Bewusstsein seiner Unzulänglichkeit und Nichtigkeit. Sie hat ihn
verworfen. Und sie nimmt alles mit, was ihm gehört hat: die kokette Zärtlichkeit ihrer kindlichen Küsse, mit denen sie, über
ihn gebeugt, sein Gesicht bedeckt hat, und den hellen Wehlaut ihrer Hingabe – alles trägt sie seit Wochen einem anderen zu
und zerstört
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