Der Himmel kann noch warten
Nachbar und Papas bester Freund. Er hat ein Häuschen in der Toskana. Das war zuerst eine Ruine, aber jetzt ist es das schönste Haus im ganzen Umkreis. Ein kleines Schloss, nennt Papa es.
»Darf ich mit?«, frage ich.
Papa sagt nichts.
»Ein Prinzesschen gehört doch in ein Schloss?«
»Das stimmt«, sagt Papa. »Wenn du wieder gesund bist, fahren wir sofort hin.«
»Ich will jetzt«, sage ich.
»Aber das geht nicht«, sagt Papa.
Er ist so ein Schlaffi. Ich weiß auch, dass ich jetzt nicht in die Toskana kann. Dazu bin ich viel zu krank. Und für Papa und Renate wäre es auch nicht schön. Denn die wollen da natürlich die ganze Zeit miteinander schmusen. Und Schmusen ist zu zweit am schönsten.
»Ich weiß, Papa«, sage ich, »aber ich stelle es mir so schön vor.«
»Wir fahren zusammen nach Italien«, sagt Papa.
»Wenn ich wieder gesund bin«, sage ich.
»Gleich am nächsten Tag«, verspricht Papa.
Versprechen von Papa sind wie die Ergebnisse einer medizinischen Untersuchung.
Wir sind eine Weile still. Still sein am Telefon, ist immer ein bisschen verrückt. Das findet Papa auch.
»Kann ich dich sonst noch irgendwie aufmuntern?«, fragt er.
»Nein, nein, Pa.«
Papa ist wieder eine Weile still. Dann sagt er: »Ich muss dann mal wieder.«
»Ich auch«, sage ich.
»Tschüss, Prinzesschen.«
»Tschüss, Pa.«
Er legt auf.
Hat er das gerade wirklich gesagt?
Ich muss dann mal wieder?
Und habe ich dann gesagt
ich auch?
Ich glaube schon. Und Papa war das schnurz. Der war mit dem Kopf schon längst in der Toskana.
Eine Erinnerung.
Ich war zehn und saß bei Papa hintendrauf. Am Fahrradlenker hingen Einkäufe. Wir schlenkerten ein bisschen.
»Hier ist es«, sagte Papa. Er bremste und ich sprang vom Gepäckträger. Papa stieg ab, schloss sein Fahrrad draußen an und hantierte mit einem Schlüssel. Er öffnete die Tür. Wohnte Papa hier?
Wir standen in einem schmalen Flur, an dessen Ende eine kleine Küche war. Da hinein gingen wir und Papa packte die Einkäufe in die Küchenschränke und den Kühlschrank. Er wusste bei allem, wo es hingehörte. Papa wohnte hier.
»Renate?«, rief Papa.
»Mein lieber, lieber Bär!«, klang es.
Ich spürte, wie mir schlecht wurde. Es war die Stimme einer Hexe.
»Wo steckst du?«
»Auf dem Klo!«
»Ach.«
»Ich kacke gerade!«
»Ach.«
Ich schaute zu Papa. Er lächelte irgendwie und zuckte mit den Schultern. »Muss auch sein«, murmelte er. Ich nickte und überlegte mir, dass ich diese Renate nicht hassen durfte, solange ich sie noch nicht gesehen hatte.
Die Spülung. Ein Wasserhahn. Eine singende Hexe.
Ich hasse sie nicht. Sie kann auch nichts dafür
.
»Lieber, lieber Bär?« Renate kam in die Küche. Sah mich. Schaute verwundert.
»Das hier ist meine Tochter«, sagte Papa.
Tochter
. Wieso nicht einfach Belle?
Renate streckte mir ihre Hand hin und lächelte falsch. Ich war mir sicher, sie würde mich vergiften oder doch wenigstens in einen Kochtopf stecken. »Von dir habe ich ja schon so viel gehört«, sagte sie.
Ich wünschte, Papa hätte ihr nichts von mir erzählt. Und mich nicht mit hierher genommen. Und ich wäre zu Hause bei Mama und diese Renate existierte nicht. Sie wohnte mit meinem Vater zusammen. Sie nannte ihn
lieber, lieber Bär
. Sie hatte ihn von Mama und mir weggelockt. Sie hatte ihn verhext.
Alles an mir hasste sie. Meine Füße wollten sie treten. Meine Hände wollten sie schlagen. Mein Mund wollte sie anschreien und meine Augen wollten sie versteinern.
Ich trat einen Schritt vor. Ich gab Renate die Hand, sagte meinen Namen und schaute sie an.
Ich nahm mir vor, sie für immer zu hassen.
Da ist Opa. Er schaut genauso lieb wie immer. Oma sehe ich nicht. Die wird wohl noch draußen auf dem Flur sein. Oma geht etwas langsamer.
Opa ist schon an meinem Bett. »Liebe Belle«, sagt er und umarmt mich. Länger als sonst, kommt es mir vor. Ich blicke über seine Schulter. Noch immer keine Oma.
»Wo ist Oma?«, frage ich.
»Im Krankenhaus«, sagt Opa.
»Schön«, sage ich.
Opa schüttelt den Kopf und sagt: »Hüfte gebrochen.«
Ich erschrecke. Opa sieht es. Und das sehe ich wiederum.
»Belle?«
Opa muss noch schlechtere Neuigkeiten erzählen. Ich höre es an seiner Stimme. Schade, dass Jani schläft. Opa ist ein echter Bote. »Gebrochene Hüfte, gebrochenes Bein«, sagt Opa. »Sie ist die Treppe runtergedonnert.«
Es ist schön, dass Opa »runtergedonnert« sagt. Für ihn ist das kein Wort, das man nicht sagt. Aber es bleibt eine
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