Der Himmel kann noch warten
Ich will nicht mehr, dass mir schlecht ist! Ich will nicht mehr hier sein! Ich will nicht mehr krank sein!
Ich weine jetzt so sehr, dass gleich jemand mit einem Wischlappen kommen muss. Oder dass die vom Stockwerk unter uns kommen und sich beschweren, weil es bei ihnen durchtropft. Ich schäme mich zu Tode. Denn es hört nicht auf. Ich glaube, dass ich nie mehr aufhören kann zu weinen.Ich komme in die Zeitung als
das Mädchen, das immerfort weint
. Und wenn meine Tränen alle rausgepresst sind, werde ich Blut weinen. Rote Bluttränen. Es sieht scheußlich aus. Und ich brauche Bluttransfusionen. Aber dadurch muss ich wieder fürchterlich weinen. So viel Blut ist gar nicht herbeizuschaffen. Ich weine es schneller aus mir heraus, als es in mich hineingepumpt werden kann. Also sterbe ich. Ohne Blut ist man nichts.
Das Mädchen, das sich totweinte
. So steht es überall. Bevor ich zu weinen anfing, wussten die Leute nicht, dass es so etwas gibt. Aber mehr Kummer als ich hat noch nie jemand gehabt.
Aufhören! Hör auf, dumme Heulsuse! Hör auf zu weinen, dumme Belle!
So sehr ich auch mit mir schimpfe, es hilft nicht. Es ist wirklich ein bisschen beängstigend. Vielleicht habe ich alle meine Tränen bis jetzt aufgespart. Es ist lange her, dass ich geweint habe. So lange, dass ich schon nicht mehr weiß, wann es war. Und jetzt müssen all die Tränen, die die ganze Zeit hinter meinen Augen hängen geblieben sind, mit einem Mal heraus.
Da ist Lies. Und Harry. Sie setzen sich neben Aisha auf mein Bett. So viel Aufmerksamkeit für mich.
»Belle«, sagt Lies.
Ich weiß es schon. Ich höre es an ihrer Stimme. Es ist genau das, was ich brauche, um mit dem Weinen aufzuhören. Ich liege hier und habe Mitleid mit mir selbst, währendein paar Meter weiter jemand in den Himmel abreist. Was bin ich nur für eine Egoistin.
»Er ist tot, oder?«, sage ich.
Harry nickt. Lies nickt. Aisha nickt hinterher. Wetten, dass einer von den dreien jetzt sagt, es wäre
besser so?
»Es ist besser so«, sagt Harry.
Na bitte. Erwachsene können manchmal so bescheuerte Sachen sagen.
DOKTOR PENNINCK
Doktor Penninck kommt und hilft mir. Ein paar Mal die Woche. Doktor Penninck ist Arzt und Psychologe und lässt mich akzeptieren, dass ich krank bin.
»Belle«, fragt er mich, »welches Gefühl ist jetzt vorherrschend?«
»Übelkeit.«
»Und in deinem Kopf?«
»Kopfschmerzen.«
Doktor Penninck lächelt. Er ist sehr geduldig. Eigentlich soll ich ihn beim Vornamen nennen, aber das gelingt mir nicht. Das findet er schade. Aber nicht schlimm. »Kommt schon noch«, meinte er, als ich sagte, ich könne ihn so nicht nennen. Er ist
sehr
geduldig.
»Bist du wütend?«, fragt Doktor Penninck.
Ich nicke.
»Auf wen?«
Was für eine blöde Frage. Auf alle natürlich. Und auf das Kranksein.
»Auf dich selbst?«
Nein, das nicht. Oder nur manchmal. Aber ich kann nichts dafür, dass ich krank bin. Das weiß ich sehr gut. Also bin ich nur dann wütend auf mich, wenn ich Mitleid mit mir selbst habe. Mitleid ist nämlich doof.
»Ich bin wütend auf Gott«, sage ich.
Doktor Penninck nickt. Er findet nie etwas verrückt, was ich sage.
»Und wieso?«, fragt er.
»Weil er nimmt und gibt.«
»Wie meinst du das?«
Das weiß ich auch nicht. Ich habe es einmal irgendwen sagen hören.
Gott nimmt und Gott gibt
. Ich werde mir etwas einfallen lassen.
»Ich bin wütend auf Gott«, sage ich, »weil er Janis Leben genommen und mir diese blöde Scheißkrankheit gegeben hat.«
»Bist du wütend auf deine Krankheit?«, fragt er.
»Das auch.«
»Und weiter?«
»Auf Leute, die Mitleid haben.«
»Welche Leute?«
»Alle.«
Doktor Penninck schreibt etwas in sein Schmierheft. Das finde ich verrückt. So interessante Sachen sage ich nun auch wieder nicht.
»Bist du wütend auf deinen Vater?«, fragt Doktor Penninck.
Ich erzähle, dass ich ihn sogar gehasst habe.
»Tatsächlich?«
Ich nicke.
»Wieso denn das?«
Ich möchte nicht darüber reden. Also lüge ich und sage, ich wüsste es nicht mehr.
»Ist ja auch egal«, schiebe ich hinterher. »Jetzt bin ich nur noch wütend auf ihn.«
»Und deine Mutter?«, fragt Doktor Penninck.
»Die ist auch wütend auf ihn.«
Doktor Penninck lächelt wieder. »Bist du wütend auf deine Mutter?«, fragt er.
Mir langt es allmählich mit dieser Fragerei nach dem Wütendsein. Wenn dieser Penninck noch lange so weitermacht, werde ich wütend auf ihn.
»Ich bin müde«, sage ich. »Ich fühle mich
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