Der Himmel ueber Dem Boesen
lang nicht gesehen. Dann bin ich auf dem Bauch zu ihr zurückgekrochen. Das war Anfang August 1995. Ich bin über Nacht geblieben, und am nächsten Vormittag hat ein Ermittlungsbeamter aus Gloucester angerufen und gesagt, sie hätten im Forest of Dean auf einem Feld bei Lydbrook eine verstümmelte weibliche Leiche gefunden.»
Merrily wollte etwas sagen, doch sie konnte nicht. Sie hatte es nicht gewusst, den Namen nicht wiedererkannt.
«Wir haben Kleidungsstücke gesehen. Sie trug immer noch ein paar Kleidungsstücke. Aber die untere Hälfte ihres Kopfes war mit Paketklebeband umwickelt.»
«Huw …»
«Und es haben Knochen gefehlt. Fingerknochen und Fußknochen.»
Merrily bohrte die Fingernägel in ihre Handflächen.
«Wir hatten ja inzwischen alles dazu gelesen. Hunderte von Zeitungsartikeln und sogar Bücher waren darüber geschrieben worden. Rose wurde wegen zehnfachen Mordes vor Gericht gestellt. Sie musste es gewusst haben … Oh ja, wir beide wussten zu diesem Zeitpunkt in jeder Einzelheit, was Fred West seinen Opfern angetan hatte, zusammen mit Rose. Wir kannten jedes Detail. Fred, der seine Kinder missbrauchte und durch ein Loch in der Tür zusah, wie seine Frau mit anderen Männern ins Bett ging. Zuerst haben sie Mädchen mitgenommen, die Lust darauf hatten – jedenfalls gingen
sie
davon aus, dass die Mädchen schon Lust bekommen würden. Dann waren es Mädchen, die bestimmt keine Lust hatten, sodass sich Fred und Rose an ihrer Angst aufgeilen konnten. Soll ich Ihnen erzählen, wie das für Julia war, Merrily? Soll ich es erzählen?»
«Nicht nötig.»
«Natürlich nicht. Sie hat wieder angefangen zu malen. Bilder von Donna, nach Fotos. Aber immer in sehr blassen Farben. Man konnte das weiße Papier durch die Malerei hindurch sehen, als ob sie versuchte, den Körper ihres Kindes zu reinigen. Ich wollte sie zu einem Besuch in der Kathedrale überreden, aber sie weigerte sich. Zu ihrem Medium ist sie weiterhin gegangen. Was hätte ich dagegen sagen können? Dort fand sie ein bisschen Ruhe, die Kirche hat ihr nicht helfen können.»
Huw griff in die Innentasche seines Jacketts und nahm eine Plastikhülle wie für einen Ausweis heraus, aus der er ein mehrfach gefaltetes Stück Papier zog. Er schob es Merrily über den Tisch. Sie ging damit zur Lampe.
Ich mache es kurz, Shep.
Es tut mir unendlich leid. Aber ich glaube wirklich, es gibt ein Anderswo – das hast Du mir gezeigt – und dass Donna mich dort jetzt braucht. Sie braucht so dringend jemanden, der sie tröstet, das fühle ich. Es tut mir so leid, weil ich Dich so sehr liebe, Shep, das weißt Du. Die Kraft, die ich hierfür brauche, habe ich nur, weil ich an Dich denke und Deine Arme um mich spüre, deshalb nimm Deine Arme bitte nicht weg, und bitte, bitte verzeih mir, und bitte bete für uns. Es tut mir SO leid.
Merrily stand neben der Lampe und hielt das Papier in der Hand. Wie oft hatte sie sich schon gefragt, ob es jemals eine Frau in Huws Leben gegeben hatte.
Als er weitersprach, konnte sie ihn nicht ansehen.
«Ich war es, der sie gefunden hat. Ich glaube, das wollte sie auch. Hat gedacht, ich wäre stark genug dafür. Der alte Shep. Der schon alles gesehen hat. Sie hatte die Haustür nicht abgeschlossen und an einem wundervollen lauen Sommerabend eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt.»
«Huw, ich …» Sie blinzelte die Tränen weg. Das würde ihm bestimmt nicht helfen.
«Und Gott?» Er hatte den Kopf gesenkt. «Ich bin an diesem Abend in meine eigene Kirche gegangen und habe rumgebrüllt und ihn verflucht. Ich war kurz davor, alles hinzuwerfen. Es heißt immer, unterm Strich würden solche Erfahrungen den Glauben stärken, und vielleicht stimmt das auch, aber das kann man in so einem Moment unmöglich wissen. In so einem Moment hilft einem der Glaube kein bisschen.»
«Nein.»
Sie legte das Papier auf den Tisch und fragte sich, ob er es heute Abend extra mitgebracht hatte, um es ihr zu zeigen, oder ob er es immer bei sich trug, in der Innentasche seines Jacketts, nah am Herzen. Den Abschiedsbrief einer zum Selbstmord entschlossenen Frau, die nie richtig zu ihm gehört und die er vielleicht schon mit dem Tod ihrer Tochter verloren hatte.
36 An Schuldgefühlen sterben
«Und wissen Sie, was der Witz dabei ist?», sagte Huw.
«Da gibt es einen Witz?»
Die Lichter von Hereford glitzerten im Rückspiegel, als Merrily am Belmont-Kreisverkehr Richtung Ross abbog. Sie hatten vor, Hochwürden Jerome Banks
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