Der Himmel über Kasakstan
sie sah seine Arme, winkend, als gehe es zu einer Reise fort … dann ratterten die schweren Wagen in die Nacht hinein … in die Unendlichkeit des Vergessens …
Ein alter Mann, es war ein Kirgise, blieb bei Svetlana stehen und legte ihr die Hand auf die zuckende Schulter.
»Komm, Tochter«, sagte er leise. »Du kannst bei mir weinen und schlafen. Ich habe einen Sohn in Perwo-Uralsk. Ich habe fünf Wochen geweint. Ich kenne es …«
Willenlos ließ sich Erna-Svetlana führen. Sie spürte nicht die Hand des alten Mannes, der ihre schlaffe, kalte Hand ergriff und sie mitzog … sie sah nicht die anderen Menschen oder die Häuser, an denen sie vorbeigingen.
Sie sah nur das schmale, blasse Gesicht Boris' und hörte seinen Schrei über das Lachen der Rotarmisten und das Donnern der Motoren hinweg.
»Ewig – ewig –«
Und es war herrlich, zu begreifen, was Ewigkeit bedeutete.
Liebe –
*
Am Fuße des riesigen, wilden Altai-Gebirges, des gewaltigen Felsenriegels zwischen Südsibirien und der Mongolei, liegt die Stadt Ust-Kamenogorsk.
Sie ist eine Stadt wie alle anderen Städte dieser Gegend, halb russisch, halb mongolisch, ein Schmelzkessel aller asiatischen Völkerrassen und ein Gewirr von Sprachen, Dialekten und Kulturen. Nur eines ist gemeinsam: der bolschewistische Gedanke und die Bilder von Stalin und Lenin an den Wänden aller Behördenzimmer, in den staatlichen Läden und an den Fassaden der öffentlichen Gebäude.
Und noch etwas hebt die kleine Stadt Ust-Kamenogorsk aus den anderen Städten am Altai heraus … südlich von ihr, bereits in den Vorläufern des gewaltigen Bergmassivs, liegen die großen Straflager der Verurteilten, die riesigen Grüften der lebenden Toten … umgeben von drei Meter hohen, fast endlos scheinenden Holzmauern, deren einzige Unterbrechung die Tore und die wie auf Stelzen stehenden hölzernen Wachttürme sind. Auf ihnen stehen die Rotarmisten hinter den Maschinengewehren, von ihnen kreisen in der Nacht die Scheinwerfer über die Baracken der Lagergruppen und über die staubigen Appellplätze.
Lager III/2398 … eine Zahl, die keiner kennt auf dieser Erde.
Um dieses Lager herum liegen die steinernen Baracken der Wachmannschaften, die Magazine, die Küchen, die Lagerhallen, die Gruben, in denen man auf russische Art die Kartoffeln und den Kapusta einlagert. Sogar ein Bordell hat man eingerichtet … im amtlichen Sowjetjargon heißt es schlicht: Wohnhaus der Küchenhilfen. Es sind junge mongolische oder halbmongolische Mädchen, breithüftig, drall und flachgesichtig, die den Rotarmisten Vergessen schenken und die Trauer wegnehmen, hier am Rande von Mütterchen Rußland einige tausend elende Gestalten zu bewachen.
Menschen, die nur aufrecht gehen wie Menschen, aber die aussehen wie Gespenster oder die grausamen Geister aus der Unterwelt, wie sie Zar Iwan im Wahnsinn auf sich zukommen sah.
Eine unter diesen lebenden Leichen war Boris Horn.
Gleich nach seiner Ankunft im Straflager Ust-Kamenogorsk war er von der Lagerärztin untersucht worden. Nackt mußte er vor ihr stehen … sie betastete seine Muskeln wie bei einem Hengst, sie klopfte seine Brust und seinen Rücken ab, betrachtete den gebräunten Körper mit sichtlichem weiblichem Wohlgefallen und sagte mit leisem Bedauern, pflichtgemäß und merklich zögernd:
»Rabota! Rudnik!« (Arbeit! Bergwerk!)
Boris kam in Baracke V, Lager II. Oberleutnant Sergeij Pantalonowitsch Kaljus befehligte es, ein junger Offizier, der Kiew als Unteroffizier mit erobert hatte und der die Deutschen glühend haßte, weil es in der ›Prawda‹ stand und für ihn alles richtig war, was von Moskau aus in diesen Winkel der Welt gebracht wurde.
Er betrachtete Boris, der nach dem Empfang armseliger, zerlumpter Wäsche und Kleider, die von einem Gestorbenen stammten, sich auf seiner Holzpritsche einrichtete, und warf den schmalen Kopf in den Nacken.
»Ein deutsches Schwein bei uns!« sagte er so laut, daß sofort alle in der Baracke schwiegen und hinüberstarrten zu Boris. »Wirklich – ein Deutscher!« Sergeij Pantalonowitsch Kaljus sah sich zu den anderen um. »Wenn hier echte Russen leben, wissen sie, was zu tun ist!«
Mit knallenden Schritten verließ er die Baracke. Die vier Soldaten, die an der Tür mit angelegten Maschinenpistolen standen, folgten ihm klappernd. Nie betritt ein sowjetischer Soldat oder Offizier allein eine Baracke von Verurteilten … wo es ein paarmal geschehen war, kam niemand mehr heraus. Trotz allen Suchens fand man
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