Der Himmel über Kasakstan
gibt es nur das Gesetz des Überlebens. Und wenn du jetzt anfängst, hier herumzuschnüffeln und es nach Alma-Ata meldest, bist du eines Tages in der Mistgrube erstickt. Verstanden?«
Erna-Svetlana wich zur Wand zurück. Das verzerrte, fette Gesicht der Wäschereileiterin flößte ihr Grauen ein.
»Aber ich will doch nur –«, stotterte sie mit versagender Stimme.
»Du willst gar nichts! Ich will! Das allein ist hier wichtig! Ich will! Ich, Olga Puronanskija. Und damit du es im voraus weißt: Anzeigen bei den Offizieren geht nicht. Sie alle waren bei mir im Bett. Es gibt hier niemanden, der dir helfen würde, wenn du den Mund aufmachst! Verstanden?«
»Ja, Olga Puronanskija.«
»Man nennt mich gosposha (Herrin)!«
»Ja, gosposha –«
»Gut.« Die Dicke lächelte schwach. Kleines, blondes, deutsches Biest, dachte sie. Ich kriege dich klein wie eine blutarme Wanze. Hier spionieren für die Genossen in Alma-Ata! Das hat es in Ust-Kamenogorsk noch nie gegeben. Und erst recht nicht im Lager III/2398! »Du kannst sofort anfangen«, sagte sie im Kommandoton. »Du kommst zum Kesselkommando! Melde dich bei der Vorarbeiterin.«
»Ja, gosposha.«
Erna-Svetlana ging die Gassen zwischen den Baracken entlang. Sie roch frisches Brot … die Bäckerei. Sie sah die große Küchenbaracke. Ein hoher gemauerter Schornstein wies ihr den Weg zur Wäscherei. Sie lag neben dem Kesselhaus für die Heizung. Aber alle Wirtschaftsbaracken standen außerhalb des hohen Holzzaunes, hinter dem der Bereich des Straflagers begann.
Bevor sie das Kesselhaus betrat, blieb Erna-Svetlana stehen und sah hinüber zu den hohen Holzpalisaden. Dort lebt Boris, dachte sie. Sie legte die Hand auf das Herz … es schlug plötzlich nicht mehr. Sie lehnte sich gegen die Wand des Hauses und starrte auf die langen Dächer der Baracken, die über den Holzzaun hinwegsahen. Dort irgendwo, in einer dieser Baracken, hat er sein Bett … dort schläft er, dort ißt er, dort träumt er von Erna-Svetlana, und dort wird er sterben, wenn er nicht im Bleiberg vor die Hunde geht oder sich aus Verzweiflung den Schädel an der Barackenwand einrennt oder in das Feuer der Rotarmisten auf den Wachttürmen rennt.
Einige Soldaten gingen an ihr vorbei. Sie musterten sie, blieben stehen und unterhielten sich. Es waren Asiaten … sie wiegten den Kopf und fanden das unbekannte Mädchen mit den langen, goldenen Haaren zu mager. Als sich Svetlana schnell abwandte und in die Wäscherei ging, lachten sie hell und spuckten Sonnenblumenkerne aus.
In der Wäscherei sah die Vorarbeiterin das junge, schmächtige Mädchen erstaunt an, als sie sich meldete.
»Zur Kesselkolonne?« fragte sie.
»Ja.«
»Weißt du, was das bedeutet?«
»Nein!«
»Alle drücken sich vor dieser Kolonne. Nur die ganz schweren Fälle, die Bestrafungen oder die Weiber, die Olga auf dem Magen liegen, kommen dahin. Zehn Stunden mußt du in den Waschdämpfen stehen … Tag um Tag … zehn Stunden im feuchten Dunst, bis du selbst ganz aufgeweicht bist und einer Wasserleiche gleichst. Was hast du der fetten Olga getan?«
»Nichts. Ich bin eben erst angekommen aus Alma-Ata.«
»Aha!« Die Vorarbeiterin lächelte. »Die Olga hat Angst. Alles, was neu kommt, kann ein Spitzel sein. Olga verschiebt Wäsche.«
»Wäsche?«
»An die Nomaden, ja. Wäsche von Toten. Täglich sterben im Lager fast dreißig oder vierzig Männer. Diese Sachen läßt sie von uns mitwaschen und verkauft sie. Der Lagerleitung meldet sie: Wäsche war schadhaft und zerfiel bei der Wäsche. Und die Lagerleitung glaubt es, denn die Offiziere und Olga … na, du wirst es noch sehen. Das hier ist ein fröhliches Leben, wenn du einem der Offiziere gefällst.«
Svetlana schüttelte den Kopf. Etwas wie Vertrauen zu der Vorarbeiterin hatte sie erfaßt. »Ich habe meinen Mann im Lager. Ich bin schwanger …«
»Ach so.« Die Vorarbeiterin zog Svetlana mit sich fort in eine Ecke der Waschhalle. Sie setzten sich auf einen großen Schemel und sahen hinüber zu den dampfenden Kesseln, in denen die Wäsche kochte und vor denen einige halbnackte Mädchen und Frauen standen und in der Lauge rührten … immer rund, wie Maschinen, wie aufgezogen, mit langen, hölzernen Knüppeln. Sie sahen mit ihrer weißen, aufgedunsenen Haut in den Kochschwaden wie tanzende Gespenster aus.
»Deine Kolonne«, sagte die Vorarbeiterin.
Svetlana nickte. Angst und ersticktes Weinen drückten ihr die Kehle zu. »Ob ich ihn einmal sehen kann?« fragte sie nach einer ganzen
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