Der Himmel über Kasakstan
einer Weile. Er konnte sich genau erinnern, aber es schadete nichts, den Menschen zu zeigen, wie nichtig und vergeßlich sie sind. »Der Mörder von Iwan Kasiewitsch Borkin. Lebenslange Zwangsarbeit. Was wollen Sie wissen?«
»Wo er ist, Genosse.«
»Was geht das Sie an?«
»Ich bekomme ein Kind von ihm.«
Gorodny grinste breit. »Traurig, traurig. Gehen Sie in die staatliche Klinik und geben Sie das Kind dort ab. Wir werden es in den Jungkommunistenheimen schon zu einem guten Bürger erziehen. Was kann ich weiter für Sie tun?«
»Sie wissen auch nicht, wo Boris hingekommen ist?«
»Nein, Genossin.«
»Aber wer weiß es denn? Einer muß es doch wissen? Er kann doch nicht einfach verschwunden sein, und keiner weiß, wohin!«
»Warum nicht? Es geschieht viel Wundersames in Mütterchen Rußland.«
»Einer muß es doch wissen!« schrie Svetlana verzweifelt.
»Vielleicht Stalin? Weiß ich es? Uns vom NKWD geht ein Mann nach der Verurteilung nichts mehr an.«
»Aber das Gericht weiß auch nicht, wohin er gekommen ist!«
»Dann fragen Sie die Rote Armee!«
»Er war kein Soldat. Die Armee ist nicht zuständig.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen.« Gorodny hob die Schultern und nahm demonstrativ die ›Prawda‹ von der Tischplatte, um darin zu lesen.
Verstört, hilflos, ängstlich stand Erna-Svetlana eine Stunde später vor Stephan Tschetwergow. Sie hatte lange gezögert, zu ihm zu gehen, aber die Angst um Boris trieb sie schließlich in das Büro des tatarischen Distriktkommissars.
»Boris ist in Ust-Kamenogorsk«, sagte er gemütlich und rauchte eine seiner süßen chinesischen Zigaretten. »Ein Lager am Rande der Welt. Es gibt dort Bleibergwerke, in denen die Menschen bei lebendem Leib zu Mumien werden. Es hat keinen Zweck, auf ihn zu warten … begnadigt wird er nicht! Es ist Anweisung ergangen, Boris Horn als Mörder Borkins besonders zu ›betreuen‹. Du weißt, was das heißt?«
»Ja.«
»Du bekommst ein Kind von ihm?«
»Ja. Deshalb will ich in seiner Nähe sein.« Sie sank auf einen Stuhl und schlug die Hände vor die Augen. »Sie haben soviel Macht, Genosse Tschetwergow«, schluchzte sie. »Sie kennen soviel Menschen … kann ich nicht zu Boris nach Ust-Kamenogorsk?«
»Unmöglich!« Tschetwergow schüttelte den Kopf. »Das Lager ist streng bewacht. Nur ganz schwere Fälle kommen hinein …«
»Ich soll Boris nie wiedersehen?« sagte Erna-Svetlana leise. Als sie den Kopf hob, erschrak Tschetwergow. Ihre Augen waren leer, starr und fast ohne Farbe.
»Nie –«, antwortete Tschetwergow stockend.
Wortlos sah ihn Svetlana mit diesen toten Augen an. Dann sank sie vom Stuhl auf den Dielenboden, als habe ihr Körper keine Knochen mehr und falle in sich zusammen.
Tschetwergow ließ sie liegen und griff zum Telefon. Er rief den Genossen Gorodny an und sprach fünf Minuten mit ihm.
Boris Horn ist weg, dachte er dabei. Aber auch Svetlana kann gefährlich für uns werden, wenn sie zu sprechen anfängt. Sie weiß genausoviel wie Boris, und es sind Dinge, die man in Moskau nicht gerne hört.
»Gut, Gorodny«, sagte Tschetwergow ins Telefon. »Sorge dafür, daß sie irgendwie in die Hilfsbaracke kommt. Als Küchenmädchen oder Wäscherin, von mir aus auch ins Bordell! Sie macht alles, nur um bei Boris zu sein. Ich schicke sie nachher zu dir.«
Eine halbe Stunde später war Erna-Svetlana wieder bei dem Genossen Gorodny. Er empfing sie jetzt höflicher, ließ ihr einen Fruchtsaft holen und betrachtete sie vor allem genauer. Fürs Bordell ist sie zu schmächtig, dachte er. Ich weiß nicht, was das alte Schwein von Tschetwergow an ihr findet. Sie ist dürr wie eine Bohnenstange, nur die Haare sind herrlich. Aber die vollgefressenen Kerle in Ust-Kamenogorsk wollen ja keine Haare haben, sondern etwas Handgreiflicheres. Hol's der Teufel – irgendwo wird man sie schon unterbringen müssen.
So kam Erna-Svetlana in das Lager III/2398 und wurde von einem dicken Frauenzimmer mit geschlitzten Augen, der Vorsteherin der Wäscherei, mit einem bösen Blick empfangen.
»Lieblingskind aus Alma-Ata?« sagte sie, als sie die Papiere studiert hatte. »Von der Zentrale eingewiesen? Willst wohl ein bißchen spitzeln, was?« Die Dicke warf die Papiere auf den Tisch und stemmte die Hände in die fetten Hüften. »Du weißt anscheinend nicht, wo du bist. Hier im Lager gibt es keine Gesetze mehr von draußen … wir haben unsere eigenen Gesetze! Hier gibt es keinen Stalin und keine NKWD, keine Rote Armee und keine Norm … hier
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